Ende Oktober reist Papst Franziskus für einen Tag nach Schweden, und zwar nach Lund, anlässlich des Auftakts zum Reformationsjubiläum. Wie kam es dazu?
Antje Jackelén: Es geht hier um das gemeinsame Gedenken an fünfhundert Jahre Reformation, und dieser Besuch ist eine Frucht von fast fünfzig Jahren Dialog zwischen Rom und Genf, also zwischen dem Vatikan und dem Lutherischen Weltbund (LWB). Das Ganze basiert eigentlich auf einer Schrift, die 2013 veröffentlicht wurde, und die den Titel trägt "Vom Konflikt zur Gemeinschaft". Bei diesem Text von etwa 90 Seiten handelt es sich um die erste von Katholiken und Lutheranern gemeinsam verfasste Beschreibung der Reformation in Geschichte und Gegenwart. Und das ist, finde ich, ein Riesenschritt vorwärts.
Was mich dabei noch mehr freut ist, dass in dieser Schrift fünf gemeinsame Aufforderungen benannt werden, die wirklich auch Zukunftsperspektiven aufweisen. Dass wir uns zum Beispiel verpflichten, gemeinsam das Evangeliums zu bezeugen und Dienst an der Welt zu tun. Aus dieser Schrift ist diese Initiative erwachsen, zum Auftakt des Jubiläumsjahres am 31. Oktober 2016 einen gemeinsamen Gebetsgottesdienst abzuhalten, und es war im Grunde der Wunsch Roms, dass dieser in Lund stattfinden soll. Und der Lutherische Weltbund hatte natürlich nichts dagegen, weil der LWB ja auch 1947 in Lund gegründet worden ist.
Was erhoffen Sie sich langfristig vom Besuch des Papstes?
Jackelén: Der Lutherische Weltbund hat von Anfang an deutlich gemacht, dass wir das Reformationsjubiläum in ökumenischer und globaler Verantwortung begehen wollen. Denn Reformation ist heutzutage ein globales Phänomen. Außerdem wollen wir daran erinnern, dass Reformation nichts Abgeschlossenes ist, sondern ein laufender Prozess. Von daher ist es wichtig, dass auch Vertreter aus anderen Teilen der Welt kommen, dass es ein internationales Ereignis ist. Wir betonen, dass der LWB und Rom gemeinsam dazu einladen. Wir sind zusammen mit der Katholischen Kirche in Schweden die lokalen Gastgeber. Das Ganze ist gar nicht so einfach zu vermitteln, denn es ist in fünfhundert Jahren bestimmt noch nie geschehen, dass man gemeinsam den Reformationstag begangen hat.
Wie würden Sie das heutige Verhältnis zwischen Lutheranern und Katholiken in Schweden beschreiben?
Jackelén: Bis zum Jahr 2000 war die Schwedische Kirche eine Staatskirche. Religionsfreiheit haben wir relativ spät bekommen, Anfang der fünfziger Jahre. Die katholische Kirche ist eine Minoritätskirche, die davon geprägt ist, dass es dort einerseits sehr viele Einwanderer gibt und andererseits Menschen, die von der Schwedischen Kirche zum katholischen Glauben konvertiert sind. Das prägt auch ein bisschen die Beziehungen: Auf der einen Seite sieht man diese Minoritäts-Majoritäts-Problematik, auf der anderen Seite die Konversionsproblematik. Denn wenn jemand "von etwas wegkonvertiert", dann hegt man oft keine so richtig sympathischen Gedanken in Bezug auf den Zusammenhang, von dem man sich abgewendet hat. Von daher ist Ökumene - katholisch-lutherische Ökumene - in Schweden nicht immer das Allereinfachste. Es gibt aber auch ein gutes Miteinander.
"Im 31. Oktober 2016 steckt das Potenzial, historisch zu werden und vor allem Mut zu machen zum Leben in Glaube und Hoffnung"
Inwieweit kann das Land wichtige Anstöße für die Ökumene geben, nachdem Sie das Verhältnis zwischen Lutheranern und Katholiken beschrieben haben?
Jackelén: Das ökumenische Gespräch hier in Schweden wird in vielerlei Hinsicht durch den Christlichen Rat geführt, das ist ein Zusammenschluss von 26 christlichen Kirchen. Da arbeiten wir alle recht gut miteinander. Es handelt sich dabei um vier "Kirchenfamilien", nämlich die lutherische, die katholische, die orthodoxe und die freikirchliche Familie. Das Ganze ist ein Forum, das meiner Ansicht nach an Bedeutung gewinnt. Wir haben außerdem in zunehmendem Maße, wie in vielen anderen Ländern der Welt auch, das Bedürfnis, die interreligiöse Arbeit besser zu strukturieren. So haben wir einen interreligiösen Rat Schwedens, der auch mit dem Christlichen Rat der Kirchen hier in Schweden zusammenarbeitet.
Was die internationale Bedeutung betrifft, so arbeiten wir als Kirche von Schweden sehr aktiv mit beim LWB, dem ökumenischen Rat der Kirchen und den anderen ökumenischen Zusammenschlüssen wie der Konferenz Europäischer Kirchen und innerhalb der Porvoo-Gemeinschaft. Das Ökumenische ist für uns als Kirche in Schweden wichtig, wir brauchen den Austausch. Was nun gerade von dem 31. Oktober 2016 in Lund ausgehen kann, das kann man ja eigentlich vorher nicht so genau sagen. Meine Hoffnung ist, dass es eben Mut zur Ökumene macht, und auch zeigt, dass in vielen der entscheidenden Fragen, vor denen die Menschheit steht, sich die Kirchen der Reformation und die Katholische Kirche hier sehr nahe stehen. Im 31. Oktober 2016 steckt das Potenzial, historisch zu werden und vor allem Mut zu machen zum Leben in Glaube und Hoffnung.
Ist irgendwann ein gemeinsames Abendmahl denkbar?
Jackelén: Bei uns ist es ja so, dass in der Lutherischen Kirche der Abendmahltisch offen ist für alle Getauften. Das heißt, dass auch Katholiken das Abendmahl bei uns empfangen dürfen. In der Katholischen Kirche ist das ja – jedenfalls offiziell – anders. Auch wenn alle wissen, dass es in der Praxis vorkommt, dass jemand das Abendmahl auch in der anderen Kirche empfängt. Aber was das offizielle gemeinsame Abendmahlfeiern angeht, da wage ich nicht recht zu hoffen, dass sich da in absehbarer Zukunft sehr viel ändern wird. Aber es gibt einen Druck "von unten" sozusagen, und den sollte man respektieren. Und ich denke, dass das, was die Gemeinden vorwegnehmen, auch wenn es offiziell noch nicht möglich ist, oft durchreflektiert und echt ist. Meiner Erfahrung nach ist das ein sehr authentischer Ausdruck dessen, was es heißt, christlich zu leben und sich als Christen, als Brüder und Schwestern, wiederzuerkennen.
Was sind in Ihren Augen die drängendsten Herausforderungen unserer Zeit, die man gemeinsam als Christen angehen müsste?
Jackelén: Frieden und soziale Gerechtigkeit sind zum Beispiel Themen, die immer präsent sind, und auch diese haben mit der Migrationsfrage zu tun. Ein weiteres Thema, das sehr aktuell ist, ist der Klimawandel. Die Enzyklika des Papstes (Laudato Si) hat durchaus sehr viele positive Reaktionen hervorgerufen, besonders auch außerhalb der Kirche. Und diese erschien ein Jahr nachdem die Schwedische Bischofskonferenz ihr pastorales Schreiben zum Thema Klima veröffentlicht hatte. Wenn ich diese beiden Schriften nebeneinanderhalte, wird ersichtlich, dass sie sehr viel Gemeinsames enthalten. Wir können in dieser Hinsicht sehr gut zusammenarbeiten. Zum Beispiel nehmen beide Schriften auf den Stand der Wissenschaft Bezug, diskutieren, wie wir mit Unsicherheiten umgehen, und behandeln den Klimawandel als eine Frage der Gerechtigkeit.
Eine weitere Frage ist, wie wir die Hoffnung stärken und es dadurch möglich machen, dass Handlungskraft freigesetzt wird, also dass konkret etwas passiert. Sehr bemerkenswert an der Enzyklika des Papstes ist auch, dass diese mit zwei Gebeten endet, und zwar mit einem Gebet, das ganz klar in der christlichen Tradition verwurzelt ist, und einem Gebet, das von allen gebetet werden kann, die an einen Schöpfer glauben. Das ist ein großer und wichtiger Schritt, durch den deutlich wird, dass man in dieser Frage auch gemeinsam für die Schöpfung beten kann, und zwar nicht nur Katholiken und Lutheraner oder andere Christen, sondern auch zusammen mit Menschen anderer Religionen.
Auch die (bis Mai 2016 amtierende, Anm. d. Red.) Chefin des UN-Klimasekretariats (UNFCCC), Christiana Figueres, hatte immer wieder betont, wie wichtig es sei, dass auch die Religionen in dieser Frage dabei seien. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat ebenfalls gesagt, wenn ihr nicht dabei seid, dann schaffen wir das nicht. Das hat damit zu tun, dass die Klimakrise nicht nur eine technische, ökonomische und politische Krise ist, sondern auch eine geistliche. Und das geht mit Fragen einher, welche Dinge uns am meisten wert sind, wo wir unser Vertrauen festmachen, und wie wir unseren Lebensstil ändern können.
"Für uns als Christen ist es wichtig, für die Würde des Menschen einzustehen, denn diese gilt unabhängig von der Religion"
Wie können interreligiöser Dialog und Ökumene dazu beitragen, dieses Problem zu bewältigen?
Jackelén: Es sind viele Dinge, die da geschehen müssen, und zwar auf allen Ebenen. All das, was Ausdruck menschlicher Würde ist, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur, Technik, Religion, muss zusammenarbeiten und diesen Weg dann auch zusammen gehen. Es darf nicht sein, dass wir unseren Enkeln und deren Enkeln eine Welt hinterlassen, in der man nicht mehr leben kann.
Welchen Reformen muss sich die Kirche selbst unterwerfen, um all die genannten Ziele zu erreichen?
Jackelén: Ein Begriff, der mit der Reformation und den Kirchen der Reformation verbunden wird, ist jener, dass eine Kirche ständig reformiert werden muss, ständig den Bedarf hat, reformiert zu werden. Damit ist nicht eine ständige Geschäftigkeit gemeint, so nach dem Motto "wir müssen jeden Tag etwas Neues probieren", sondern dass man den Anspruch hat, in und mit der Tradition zu leben, aber immer dafür offen zu sein, dass man umdenken und sich verändern muss.
Was können die Christen im Dialog mit Muslimen bewirken?
Jackelén: Für uns als Christen ist es wichtig, für die Würde des Menschen einzustehen, denn diese gilt unabhängig von der Religion. Außerdem muss man ganz nüchtern sagen, dass, gerade wenn es um den Islam geht, Christen und Muslime mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Wenn man Weltfrieden haben will, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass Christen und Muslime friedlich zusammenleben können. Wenn es um Religionsdialog geht, so ist meine Erfahrung, dass - wenn es um den Dialog mit zum Beispiel Buddhisten geht – dieser weitgehend unstrittig ist. Die Kontroversen brechen heutzutage dann auf, wenn es um den Islam geht. Es gibt auch hier in Schweden sehr viel Angst vor dem Islam, auch Hass auf den Islam.
Sobald ich etwas zum Thema Dialog in den sozialen Netzwerken sage, kommt eine ganze Welle von Tweets zurück, die mich drängen, vom Islam Abstand zu nehmen, den sie als Lügenreligion, Gewaltlehre und dergleichen bezeichnen. Da wird es ganz offensichtlich, dass es Kräfte gibt, die nicht unterscheiden wollen zwischen Extremismus bzw. Missbrauch von Religion und einer religiösen Tradition, die ja auch eine lange Geschichte aufzuweisen hat. Und das ist beunruhigend. In diesem Zusammenhang gibt es drei "P", die eine Herausforderung darstellen, das sind Polarisierung, Populismus und Protektionismus.
Wie wird das Reformationsgedenken in Schweden selbst gefeiert?
Jackelén: Das hängt von den jeweiligen Gemeinden und den Diözesen ab, die alle ihre eigenen Pläne haben. Was zentral passiert, da gibt es, wie sich das gehört, eine Website, wo Informationsmaterial und Ideen gesammelt werden. Auch die Diözesen werden den Gemeinden Anstöße geben. Am 29. Oktober 2017 wird hier im Dom von Uppsala ein offizieller Jubiläumsgottesdienst stattfinden, der auch im Fernsehen übertragen wird.
Die Reformation ist nicht nur eine kirchliche Angelegenheit, sondern auch eine gesellschaftliche "Bildungsbewegung". Hier in Schweden ist die Reformation sehr mit der Staatsbildung verknüpft gewesen, sie hat hierzulande eine andere Geschichte als in Deutschland. Hier kam sie "von oben", durch Gustav Wasa, hier sieht die Schwedische Kirche rein äusserlich ganz katholisch aus. In Deutschland musste die Reformation allmählich neue Begriffe finden, der "Priester" wurde zum "Pfarrer", die "Eucharistie" wurde das "Abendmahl", die "Messe" wurde der "Gottesdienst". Wir hingegen haben all die katholischen Ausdrücke beibehalten, weil es in Schweden keinen Profilierungszwang gab, was andererseits nicht heißt, dass die Einführung ohne Widerstand vonstatten ging.
"In dieser Situation der öffentlichen Sprachlosigkeit ist es leicht für populistische Kräfte, das Christentum als ein Bollwerk gegen das Fremde zu etablieren und ein gutes Miteinander über Religionsgrenzen hinweg zu erschweren."
Seit dem Jahr 2000 ist die Schwedische Kirche keine Staatskirche mehr; welche Folgen haben sich daraus ergeben?
Jackelén: Wir sind bisher immer noch eine relativ wohlhabende Kirche, auch noch eine relativ große Kirche. Und obwohl Schweden einerseits zu den säkularisiertesten Ländern der Welt gehört, sind immer noch über sechzig Prozent der Bevölkerung Mitglieder der Schwedischen Kirche. Wir haben aber eine Tendenz, eine kleinere Kirche zu werden, ein Trend, den wir mit vielen "Mainstream-Kirchen" in Europa teilen, und der übrigens nicht nur die Kirchen betrifft. Auch politische Parteien und Gewerkschaften haben jetzt geringere Mitgliederzahlen als noch vor einigen Jahren.
Wir genießen weiterhin ein großes Vertrauen in der Gesellschaft, auch seitens der Regierung wurde in Bezug auf die Flüchtlingskrise gesagt, dass Schweden die Lage so nicht hätte meistern können, hätte man die Kirchen nicht gehabt. Das ist an sich eine neue Sichtweise, denn der schwedische Staat gilt ja traditionell als Wohlfahrtsstaat, in dem die Kirche als "Wohlfahrtsakteur" im Grunde überflüssig war. Das hatte unter anderem zur Folge, dass der Glaube zu einer Privatfrage reduziert wurde. Das hat zu einer Sprachlosigkeit geführt, was das seriöse öffentliche Gespräch über geistig-geistliche Fragen anbelangt. Jetzt befinden wir uns in einer Phase des Umbruchs, in der deutlich wird, dass einerseits die Rolle der Kirche als "Wohlfahrtsakteur" nicht überflüssig ist, und andererseits Glaube und Religion nicht nur Privatsache sind, auch aufgrund der Tatsache, dass in Schweden nunmehr viele andere Glaubensrichtungen angesiedelt sind und Religion sehr viel sichtbarer geworden ist als es noch vor fünfzehn oder zwanzig Jahren der Fall war.
Wir befinden uns auch deswegen im Umbruch, weil diese religiösen Debatten zum Beispiel um den Hijab oder den Burkini aufkommen, verbunden mit der Frage, wie wir damit umgehen. So haben wir jetzt eine Debatte in Schweden darüber, dass - wenn die Schwedische Kirche zum Beispiel über Religionsdialog redet – das Christentum verwässert wird. In dieser Situation der öffentlichen Sprachlosigkeit ist es leicht für populistische Kräfte, das Christentum als ein Bollwerk gegen das Fremde zu etablieren und ein gutes Miteinander über Religionsgrenzen hinweg zu erschweren. Das ist eine Situation, die vor zehn Jahren keiner so vorausgesehen hat.
Sie sind gebürtige Deutsche, kommen ursprünglich aus Herdecke in Westfalen – wo fühlen Sie sich mehr Zuhause, in Deutschland oder Schweden?
Jackelén: Ich habe ja auch noch ein Stück Heimat in den USA, in Chicago, wo ich sechs Jahre lang gelebt habe. Das "Heimat"-Gefühl ist für mich persönlich weniger mit einem geographischen Platz verbunden als mit dem Erleben "hier gehöre ich hin, ich gehöre zu diesen Menschen, gerade jetzt und hier erlebe ich ein Stück Heimat". Das kann an ganz verschiedenen Orten sein, sowohl Schweden als auch Deutschland als auch USA. Ich empfinde es so, dass Heimat eher ein Erlebnis in der Zeit ist als ein Ort im Raum.