evangelisch.de: Herr Kessner, sind Sie als Pfarrer der deutschen Gemeinde privat beim ESC oder haben Sie eine seelsorgerische oder organisatorischen Aufgabe vor Ort?
Lars Kessner: Eine offizielle Beauftragung der ARD oder der EBU (Europäische Rundfunkanstalt) habe ich nicht. Allerdings wurde ich als Repräsentant unserer Gemeinde von der Deutschen Botschaft zu einem Vorkonzert ins Fan-Café im Eurovision Village eingeladen. Dort hat Isaak seinen Song "Always on the run" unplugged gesungen. Ansonsten habe ich privat zwei Veranstaltungen in der Arena angeschaut. Die Generalprobe zum 1. Halbfinale und die Live-Show zum 2. Halbfinale.
Wie ist denn Stimmung vor Ort?
Kessner: Malmö hat sich herausgeputzt und sich liebevoll auf den ESC vorbereitet. Dennoch unterschied sich die Stimmung in der Stadt deutlich von der Stimmung in der Malmö Arena. Durch die Malmöer Innenstadt zogen Demonstranten mit Palästinenserflaggen. Auch am Eingang vor der Arena gegen die Teilnahme Israels demonstriert. Doch in der Arena war davon nichts mehr zu spüren. Alle Besucher hatten Lust auf eine tolle Show. Ich kannte den ESC bisher nur aus dem Fernsehen. Dieses Großevent live zu erleben, war atemberaubend. Ich hatte nicht erwartet, dass mich die Bühnentechnik derart begeistern würde. So etwas überwältigendes habe ich noch nicht erlebt. Dazu kam die Musik, der Humor der Moderatorinnen und das fröhliche Publikum. Eine perfekte Mischung.
Mit welchen Sorgen kommen die Menschen während des/beim ESC zu Ihnen?
Kessner: Ich muss etwas ausholen, verzeihen Sie mir: Wir treffen uns in der Deutschen Evangelischen Gemeinde Malmö wöchentlich zum Friedensgebet. Dort tragen wir unsere Sorgen und Hoffnungen zusammen und bringen die im Gebet vor Gott. Dass mit dem ESC in Malmö die Konflikte der Welt nochmals intensiver zutage treten, ist in diesem Kreis definitiv ein Thema. Gemeindemitglieder berichten vermehrt von ihrer Zukunftsangst, Angst vor Krieg, vor Hass und Wut, Angst vor dem Abbruch von Gemeinsinn und Völkerverständigung.
"Die Zeit der Unschuld, so es sie je gab, ist erst einmal vorbei."
Die Gefahren unserer Zeit kann man derzeit am Straßenbild Malmös deutlich ablesen. Rund um die Malmö Arena, wo der ESC stattfindet, stehen Straßensperren. Polizei mit erkennbar schweren Waffen sichert die Menschen auf vielen Plätzen und Straßen, übrigens mit bemerkenswerter Freundlichkeit. Man spürt: Die Zeit der Unschuld, so es sie je gab, ist erst einmal vorbei.
hat sich privat bereits zwei Veranstaltungen in der Arena in Malmö angeschaut.
Beim letzten ESC in Malmö, also vor meiner Zeit in Schweden, war die Stadt in Feierlaune; damals, 2013, hat Russland noch nicht die Ukraine überfallen, die Türkei und Ungarn schickten noch Lieder zum ESC, ohne sich abzuwenden, weil sie kulturelle Vielfalt nicht in Einklang mit ihren repressiven Weltbildern bringen können und heute nichts mehr fürchten als die Freiheit. Dieses Mal ist es in Malmö vieles anders. Terrordrohungen, politischer Extremismus, Antisemitismus, bis hin zu wahnhaften Hasspredigern, die den Koran verbrennen, überschatten dieses Musikfest, das sich der Verständigung unter den Nationen widmen und gerade nicht politisch sein will.
Auf all diese Anfechtungen muss auch Kirche reagieren und ich sehe mich als Seelsorger gefragt. Eine Antwort lautet: Wir dürfen uns nicht spalten lassen, sondern müssen den Dialog aufrechterhalten und Meinungen diskutieren, auch jene, die wir nicht teilen. Wir müssen zugleich Grenzen des Sagbaren und Aushaltbaren definieren. Ich habe in meiner Zeit hier gelernt: Diese Grenzen sind in Schweden weiter gesteckt als in Deutschland.
Der ESC in Malmö ist für ein paar Tage zum Kristallisationspunkt dessen geworden, was wir in unserer Welt diskutieren und sogar fürchten. Und dann bin ich in der Malmö Arena umgeben von unzähligen Sprachen und Kulturen und sehe Menschen feiern, höre sie lachen und singen und sich freuen – so ging es mir bei den Live-Shows, die ich in dieser ESC-Woche besucht habe – und ich denke: Es gibt wirklich allen Grund zur Hoffnung!
Welche religiösen Inhalte kommen in den Liedern vor? Was ist christlich an den Songs oder Künstlern, die am ESC teilnehmen?
Kessner: Schon das Motto des ESC 2024 ist für mich christlich deutbar: United By Music! Das hätte Martin Luther gefallen. Er hat verstanden, was Lieder und Musik für eine verbindende Kraft haben. Ich bin froh, dass wir Christen der Musik diese Bedeutung geben. Ich habe gelesen, dass afghanischen Taliban Musikinstrumente verbrennen und in Tschetschenien sowohl zu schnelle und zu langsame Musik verboten ist. Wer Musik verbietet, verbietet es, ganz Mensch zu sein. Musik ist immer auch subversiv und eine Erneuerin.
"Die Songs beim ESC verstecken manchmal ihre Botschaften ein bisschen hinter den grellen Shows."
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, Online-Texterin und Marketing-Coach. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Ohne die popkulturellen Freiheitsapelle der Beatles, Rolling Stones, Madonna, Abba und Lady Gaga wäre Gesellschaft vielleicht eine andere, ich meine, eine schlechtere. Die Songs beim ESC verstecken manchmal ihre Botschaften ein bisschen hinter den grellen Shows. Aber es gibt darunter auch die klaren Bekenntnisse des Glaubens, etwa beim Ukrainischen Beitrag von "alyona alyona & Jerry Heil", die mit dem Titel "Teresa & Maria" christliche Frauenfiguren besingen.
Aber unter uns und bei aller Freude am ESC: Schütz, Monteverdi, Brahms, Wagner und Mozart gehen mir musikalisch immer noch näher. Ich prüfe alles, aber auf meine Playlist kommt mir nur das Beste.
Wie feiert Ihre deutsche Gemeinde dieses Event?
Kessner: Wir schauen das Finale gemeinsam in unserem Gemeindehaus an. Der Beamer wirft die Bilder groß an die Wand, die Musik kommt aus der guten Tonanlage. Vorab wird gegrillt und jeder bringt etwas mit. Ich werde ein "Wort zum Sonntag" sprechen, genau vier Minuten, wie im Fernsehen. Es werden Kinder und Erwachsene kommen. Die Kinder hier in Schweden sind übrigens große ESC-Experten. Der ESC ist in diesem Land jedes Jahr ein nationales Ereignis. Der Vorentscheid (schwed.: Melodiefestivalen) wird über Monate hinweg diskutiert – auch und vor allem in den Schulen. Es lohnt sich, immer auch von anderen zu lernen, ganz besonders auch von Schweden. Die positive Haltung zur Musik und zu sich selbst gehören bestimmt dazu. Und Schweden haben keine Angst zu tanzen.