Rosinha dos Santos würde bei den Paralympics in Rio de Janeiro gerne wieder auf dem Podest stehen. Zwei Goldmedaillen gewann sie bereits bei den Spielen in Sydney. Ihre Disziplinen sind Kugelstoßen und Diskuswerfen. Für viele Menschen in Brasilien, die mit Behinderungen leben, ist die Athletin ein Vorbild. Die ehemalige Hausangestellte kämpft für Chancengleichheit und das Recht auf eine barrierefreie Umwelt. Sport ist dafür ein gutes Mittel.
"Es ist ein einzigartiges Gefühl, zuhause anzutreten. Ich hätte nie gedacht, dass ich all das eines Tages erleben würde," sagt Rosinha dos Santos. Zum vierten Mal wird sie an Paralympischen Spielen teilnehmen. "In Rio will ich unbedingt ganz vorn mit dabei sein."
Rosinha dos Santos ist gerade beim Training, wie jeden Nachmittag. Der Weg ist nicht weit. Direkt vor ihrem Apartment im 14. Stock liegt ein weitläufiger Park mit vielen Rasenflächen. Sie ist nicht die einzige Sportlerin hier, gleich neben ihr trainieren Fußballer, weiter hinter wird Volleyball gespielt. Rio de Janeiro ist zwar Olympiastadt, aber an Trainingsstätten mangelt es. Weder Hochleistungssport noch Breitensport sind hier wichtig, denn Sport bedeutet für die meisten hier nur Fußball.
Rosinha dos Santos konzentriert sich auf den nächsten Diskuswurf. Sie ist kräftig gebaut, die Arme sehr muskulös. Das lautstarke Ausatmen schallt durch den Park. "Du musst dich beim Wurf strecken, wachsen", sagt ihre Trainerin. Die Athletin sitzt auf einem Metallpodest, das mit mehreren Leinen im Boden fixiert ist. Das ist die Ausgangsstellung für den Diskuswurf in ihrer Kategorie. Mit 18 Jahren verlor sie bei einem Unfall ihr linkes Bein. Mit dem Sport kam sie erst danach in Berührung.
"Ich bat Gott um Weisheit und Einfühlungsvermögen, um die Medaillen ohne Arroganz zu tragen"
"Ich wusste nicht einmal, dass es paralympische Athleten, Sportler mit Behinderung gibt", erinnert sich Rosinha dos Santos. Als sie eines Tages vor ihrem Haus stand, kam ein Sportlehrer vorbei. Er hielt sein Auto an und überredete sie zum Training. "Damals sagte er mir gleich voraus, dass ich einmal Weltrekordlerin werden würde. Ich schaute ihn zweifelnd an und wurde richtig ärgerlich, denn ich glaubte, er mache sich über mich lustig."
Der Trainer sollte Recht behalten. Er brachte Rosinha dos Santos Diskuswerfen und Kugelstoßen bei. In Sydney zur Jahrtausendwende war sie erstmals bei Olympia dabei und siegte auf Anhieb in beiden Disziplinen – mit Weltrekord. Von da an veränderte sich ihr Leben grundlegend: Früher arbeitete sie als Hausangestellte, jetzt ist sie Hochleistungssportlerin und steht im Scheinwerferlicht. Doch Rosinha dos Santos weiß, dass der Erfolg auch Schattenseiten hat. "Es gibt Athleten, die Medaillen gewinnen, aber nicht wissen, wie sie mit ihrem Erfolg umgehen sollen. Ich bat Gott um Weisheit und Einfühlungsvermögen, um die Medaillen ohne Arroganz zu tragen. Ohne den Umgang mit meinen Freunden zu verändern", erzählt sie bedächtig. Sie ist katholisch und sehr religiös.
Von ihrer Heimatstadt Recife im Nordosten Brasiliens zog die Athletin nach Rio de Janeiro. Im Strandviertel Recreio lebt sie mit ihrer heutigen Trainerin zusammen. Die Paralympics sind für Rosinha dos Santos nicht nur ein sportlicher Höhepunkt. Das Sportevent trägt auch dazu bei, dass ihr Leben und das aller anderen Menschen, die in Brasilien mit Behinderungen leben, angenehmer wird. "Inzwischen hat sich vieles verbessert, auch wegen der Vorbereitungen auf die Paralympics. Es gibt jetzt zum Beispiel einige behindertengerechte Verkehrsmittel. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages mit meinem Rollstuhl in einen Bus einsteigen könnte." Auch beim Bau von Gebäuden werde inzwischen an Rollis gedacht, Rampen würden eingeplant. "Es wird besser. Aber es muss noch viel geschehen!"
Die 44-jährige Sportlerin will anpacken, sie möchte die Dinge verändern und Vorurteile abbauen. Lange Reden sind nicht ihr Stil. Sie denkt eher an die Praxis, wenn theoretisch über Inklusion gesprochen wird. "Die Leute reden viel. Oft habe ich festgestellt, dass von Inklusion geredet wird – aber wenn du nicht hören kannst, wenn du nicht sprechen kannst, dann bleibst du doch ausgeschlossen." Die Leute sollten das Wort Inklusion nicht leichtfertig in den Mund nehmen, findet Rosinha dos Santos. Es sei besser, leise an sich selbst zu arbeiten, damit es überzeugend klingt, wenn das Wort Inklusion ausgesprochen wird. "Für mich bedeutet Inklusion ganz einfach Menschlichkeit. Dass die Menschen respektiert werden, ihre Hautfarbe, alles."
"Der Weg ist noch weit"
Rosinha dos Santos pocht auf ihre Rechte, sie lässt sich nicht unterkriegen. Ausdauer und ihr Glaube haben ihr immer geholfen, Rückschläge zu überwinden. So hat sie auch den Krebs besiegt, der vor zwei Jahren diagnostiziert wurde. Sie ist stolz darauf, dass sie nach der schweren Krankheit jetzt wieder für Olympia trainiert.
In ihrem Stadtteil ist die Athletin sehr beliebt. Während sie trainiert, kommen immer wieder Bewunderer vorbei, die sich mit ihr fotografieren lassen. Vor allem Menschen mit Behinderung suchen ihre Nähe. Manchmal bittet Rosinha dos Santos ihre Trainerin, die beiden Goldmedaillen für die Fotosession zu holen. Und die Fackel, die sie behalten durfte, nachdem sie im Mai dabei war, als das olympische Feuer durch Brasilien getragen wurde.
Sie ist sich bewusst, dass der sportliche Erfolg ihr Leben verändert hat. Und dass ihr Schicksal die Ausnahme ist. "Eine Schwarze, arm und behindert – ich habe früher sehr unter Vorurteilen gelitten. Egal wo ich hinging, überall waren die Vorbehalte der Leute zu spüren." Heute sei dies anders, sie werde gegrüßt und als Athletin respektiert. Aber die Vorurteile seien hartnäckig, in Brasilien wie auch anderswo. Rosinha dos Santos kämpft gegen die Diskriminierungen: "Der Weg ist noch weit."