"Morgen werde ich an der Niere operiert", erzählt Eduardo gegen Ende des Gottesdienstes. Er bitte Gott inständig, dass alles gutgehe. "Sonst noch jemand?", fragt Pfarrer Ramiro Arroyo. Eine Gottesdienstbesucherin meldet sich. Als sie von den Eheproblemen ihres Bruders berichtet, fängt sie an zu schluchzen. Sie hoffe so sehr, dass der Bruder und seine Frau sich bald aus der misslichen Lage befreien können, zum Wohl der beiden Kinder. Am Ende werden die Sorgen und Wünsche aller Gemeindeglieder in ein gemeinsames Gebet eingeschlossen. "Und danach", sagt Arroyo, "kommen wir alle wieder hier zusammen, um Gott zu danken."
"Meine Leute sind das so gewöhnt", erzählt Arroyo später; "an das Entspannte, Partizipative, und daran, zu lächeln." In dieser Hinsicht seien seine Gottesdienste sehr lateinamerikanisch – ohne dabei das Lutherische zu vernachlässigen: "Meine Ausbildung ist reformiert-lutherisch", sagt Arroyo und fügt hinzu, dass ihm die halbe Gemeinde davonlaufen würde, wenn er seine Gottesdienste so kühl gestalten würde, wie es in Deutschland oft die Regel ist.
Arroyo weiß, wovon er spricht. Seit 14 Jahren ist er mit einer Deutschen verheiratet, zusammen haben sie zwei Kinder. Zudem steht seine Glaubensgemeinschaft in engem Kontakt mit der EKD. Zusammen mit der deutschsprachigen EKD-Auslandsgemeinde und der englischsprachigen St.-Nicholas-Gemeinde bildet sie die Evangelisch-lutherische Kirche Ecuadors IELE (Iglesia Evangélica Luterana del Ecuador). Die drei Gemeinden teilen sich ein Gotteshaus, die schlichte, aber stilvolle Adventskirche in Quitos Stadtteil La Floresta. Mindestens dreimal im Jahr feiern alle drei Gemeinschaften zusammen Gottesdienst.
"Es gab eine deutliche Öffnung"
Gegründet am 1. Advent 1958 – daher der Name der Gemeinde – von europäischen Aussiedlern, kam in den 1980er Jahren als letzte die spanischsprachige Gemeinde dazu. Derzeit hat sie rund 120 Mitglieder. Arroyo ist ihr erster ecuadorianischer Pfarrer und seit rund zweieinhalb Jahren im Amt. Im Anschluss an das dreijährige Vikariat wurde für seine Ordination eigens Bischof Medardo Gómez aus dem mittelamerikanischen El Salvador eingeflogen.
All dies deutet bereits auf eine der größten Herausforderungen in Arroyos Arbeit: den schweren Stand des Protestantismus in der Nordhälfte Südamerikas, namentlich in den Andenstaaten Bolivien, Kolumbien, Ecuador und Venezuela. Die meisten katholischen Bischöfe in Südamerika seien wie seit jeher konservative Hardliner, erklärt Arroyo. "Wir sind hier immer noch Jahre zurück", bilanziert Arroyo.
Dennoch, seit der Jahrhundertwende habe sich einiges getan: durch den auf dem Kontinent etwas verspätet eingetroffenen Einfluss des Zweiten Vatikanischen Konzils in den 1960er Jahren, vor allem aber durch den neuen Papst, der aus Argentinien stammt und als Reformer wahrgenommen wird. "Es gab eine deutliche Öffnung", sagt Arroyo. Das Nebeneinander der Konfessionen sei zwar nach wie vor von Differenzen geprägt; mit der Lage von vor 40 oder 50 Jahren sei das aber nicht mehr vergleichbar.
Damals wurde die protestantische Kirche in Ecuador regelrecht dämonisiert. "Die ersten Missionare aus Europa durften keine Kreuze aufstellen, keine Glocken läuten, Gottesdienste konnten allerhöchstens im privaten Rahmen gefeiert werden", erzählt Arroyo. Als in den 60ern einer der ersten Pfarrer aus Deutschland in Quito verstarb, konnte er nicht beerdigt werden: Es gab nur katholische Friedhöfe. Schlussendlich wurde er in den Bergen bestattet, über eine Stunde südlich der Hauptstadt.
Über Martin Luther seien in Ecuador und anderen Ländern Lateinamerikas Jahrzehnte lang gefälschte Biographien verbreitet worden, fährt Arroyo fort. Als regelrechter Antichrist sei der Reformator dargestellt worden, als Psychopath, dessen Namen man besser nicht erwähnte. "Und es gibt hier bis heute Seminare, auch evangelische, die das Bild Luthers verzerren, weil sie ihn gar nicht richtig kennen." Besonders schädlich sei der Einfluss erzkonservativer Protestanten aus Nordamerika.
Luther-Filme bringen die Gemeinde zum Staunen
Die wenig verwurzelte lutherische Tradition im Land spiegelt sich auch in den Videoabenden und Diskussionsrunden, die Arroyos Gemeinde mit Blick auf den 500. Jahrestag der Reformation im kommenden Jahr veranstaltet. Seit Frühjahr 2015 laden die drei Hauptstadtgemeinden alle drei Monate Gläubige verschiedener Konfessionen und Religionen aus dem ganzen Land zu den Abenden ein. Im Durchschnitt kommen 20 Besucher, die meisten von ihnen Protestanten.
Dort breche sich vor allem eines Bahn: große Überraschung. Neun von zehn Mitgliedern in Arroyos Gemeinde – darunter er selbst – sind ehemalige Katholiken, die aus ganz unterschiedlichen Gründen zum Protestantismus konvertierten. "Die wissen kaum etwas über die Entstehungsgeschichte ihrer Glaubensrichtung und sind ehrlich erstaunt, wenn sie Filme über Luther und die Ursprünge des Protestantismus sehen", sagt Arroyo. Die Auseinandersetzung mit der Reformation und ihrer Geschichte, sie sind hier zuvorderst elementare Bildungsarbeit.
Für ihn selbst, sagt Arroyo, sei es eine Ehre und ein Segen, während eines Jubiläums wie dem von 2017 evangelischer Pfarrer zu sein, inmitten einer hochmodernen Welt zu den Ursprüngen des Evangeliums zurückzukehren und seinen Schützlingen die Lehre Luthers nahezubringen: "Die Tatsache, dass die Kirche kein Geschäft sein darf, nie mehr; dass die Kirche nicht die des Pfarrers ist, sondern die Kirche Christi – wer das nicht versteht, sollte besser nicht mehr wiederkommen; der Dienst an den Kranken und Schwachen… All das sind Grundzüge meiner Arbeit, die, wie ich denke, wichtige Bestandteile unserer Kirche sind."
Arroyo wurde vor zweieinhalb Jahren ordiniert, um seiner Gemeinde mehr Stabilität zu verleihen. Einer Gemeinde, die seit Jahrzehnten eine Art Durchgangsstation ist für Ausländer und selbst für ihre Pfarrer, die immer nur auf Zeit in Ecuador leben. Arroyo wurde ordiniert, um den Protestantismus lutherischer Tradition in seiner Heimat fester zu verankern. In einem seit Jahrhunderten katholisch-konservativ geprägten Umfeld sei das harte Arbeit, sagt er. Aber auch sehr schön.