Der Weg nach Remera ist steinig. Eine staubige Piste führt von der modernen Großstadt Kigali in die 5000-Seelen-Gemeinde, und es wird immer stiller im Jeep. Bei der Abfahrt in Kigali war Pastor Jérôme Bizimana, noch unter Adrenalin, ganz im Hier und Jetzt. In der Hauptstadt Kigali tagt heute der Pfarrkonvent, auf der Tagesordnung der ganz normale Alltag: Wo kriegen wir mehr Pfarrer her, warum wollen die jetzt alle in der Großstadt arbeiten und wie meistern wir die Konkurrenz mit den vielen kleine Pfingstkirchen im Land? Probleme im Jahr 2016.
Erst als der Jeep den Fluss Nyabarongo überquert, wird Pastor Jérôme ganz melancholisch. "Dieser Fluss", sagt er, "war damals rot. Blutrot." Damals, während des Genozids im Jahr 1994, warfen die Mörder tausende von Leichen in den Fluss. Ruanda, ein Land mit nur zwölf Millionen Einwohnern, verlor während des Genozids in nur wenigen Wochen fast ein Zehntel seiner Bevölkerung. Dass heute Täter und Hinterbliebene gut miteinander leben können, ist auch Pfarrern zu verdanken wie Jérôme Bizimana.
Vom Fluss Nyabarongo sind es nur noch wenige Kilometer bis zur Abzweigung nach Remera, der Gemeinde, in der Jérôme Pastor ist. Sein Jeep hält direkt vor einem Backsteinbau, die Dorfbewohner haben ihn mit eigenen Händen gebaut. Eine kleine Gedenkstätte, mit zehn Namen links, 29 Namen rechts. Zehn Pastoren hatten sich 1994 hier in der Dorfschule versteckt und 29 Kinder. Als eines der Kinder nachts Essen besorgen wollte, wurde es erwischt, alle 39 Versteckten wurden ermordet. Mit Macheten, mit Äxten, mit Messern – wer den Kinofilm "Hotel Ruanda" gesehen hat, kann sich vorstellen, wie archaisch dieser Krieg war. Und wie tief die Wunden in den Seelen der Überlebenden sein müssen. 70 Prozent der Kinder haben damals mit eigenen Augen gesehen, dass jemand umgebracht wird, 90 Prozent waren sicher, dass sie selber sterben würden.
Eine Gruppe von Gemeindemitgliedern hat sich heute versammelt, um von damals zu erzählen. Und von dem steinigen Weg, den sie gegangen sind seither. Versammeln, das heißt in dieser evangelischen Gemeinde: Um einen runden Tisch stehen, immer abwechselnd ein Mörder und eine Überlebende. Ein Kirchenlied singen. Ein Gebet sprechen. Hinsetzen. Und dann steht der erste auf, man spürt, er macht das nicht zum ersten Mal: "Mein Name ist Kalisa, als ich aus dem Gefängnis kam, wäre ich am liebsten weggelaufen, alle im Dorf haben sich weggedreht." Als nächste steht Anasatasi auf, eine Witwe, die Mann und drei Kinder verloren hat: "Ich hatte gehofft, dass die Mörder nie wieder aus dem Gefängnis kommen."
"Unsere Kirche hat Schuld auf sich geladen"
Aber die Mörder kamen zurück ins Dorf, die meisten nach zwölf Jahren, manche auch früher, wenn sie schon im Gefängnis ihre Schuld bekannten. Und Pastor Bizimana musste eine Gemeinde aufbauen, in der Täter und Opfer in einer Kirchenbank sitzen. "Am Anfang fiel es mir echt nicht leicht, vor diesen Kerlen zu predigen", sagt er, "aber wir sind die Kirche der Feindesliebe und Versöhnung. Versöhnung ist die Grundlage, wie wir das Land wieder aufbauen können." Der Pfarrer lernte im benachbarten Sambia Konfliktmanagement und gründete 2010 die Gruppe "Light": 28 haftentlassene Mörder und zwölf Überlebende treffen sich seither einmal die Woche im Gemeindehaus und machen Friedensarbeit. Am Anfang stand das Schuldbekenntnis im Mittelpunkt, immer wieder und wieder mussten die Mörder sich im Gottesdienst vor die Gemeinde stellen und bekennen, was sie getan hatten. Inzwischen macht die "Light"-Gruppe praktische Sozialarbeit, hilft Witwen dabei, ihr Feld zu bestellen oder die alten Eltern zu pflegen. "Taten bewirken mehr als Worte", sagt Anasatasi, die ihrem Peiniger inzwischen vergeben hat. Für Pastor Jérôme ein "Licht" nach der neunwöchigen Finsternis, "Ihr seid das Licht der Welt", Matthäus 5.
Die Menschen hier sind fromm. 90 Prozent der Ruander gehören einer christlichen Kirche an, überwiegend der evangelischen. Zwar gibt es – wie überall in Afrika – viel Konkurrenz durch kleine Freikirchen, die oft schnellen Reichtum oder Wunderheilungen versprechen. Aber die Pfarrer der großen EPR "Église Presbytérienne au Rwanda" (vergleichbar unserer EKD) nehmen es sportlich. "Spätestens wenn die Wunder nicht eintreten, kommen viele zu uns zurück", grinst Emmanuel, ein Kollege von Jérôme. Und der Kirchenpräsident, Pascal Bataringaya, sagt selbstbewusst: "Mit der Versöhnungsarbeit und der praktischen Sozialarbeit haben wir uns großen Respekt in der Bevölkerung verdient."
Bataringaya ist noch jung, als der Völkermord im April 1994 ausbrach, hatte er gerade sein Abitur und ging für Frieden zwischen Hutu und Tutsi auf die Straße. Vergeblich. Und zutiefst enttäuscht von der evangelischen Kirchenleitung, die sich dem Morden nicht entgegenstellte. "Unsere Kirche hat damals total versagt und schwere Schuld auf sich geladen." Der Abiturient studierte genau deswegen Theologie, promovierte über Dietrich Bonhoeffer und lebt nach dessen Maxime: "Kirche ist immer Kirche für andere." Heute ist er Chef einer Kirche, zu der Theologen und Politiker aus aller Welt pilgern, um zu verstehen: Wie schaffen die das? Wie können Nachbarn, die zu Mördern geworden sind, heute wieder zusammen leben?
Zu denen, die das verstehen wollen, gehört der Theologieprofessor Martin Leiner aus Jena, der mit Politologen, Linguisten und Pädagogen interdisziplinär erforscht, wie Versöhnung gelingen kann. Er sagt, der Mensch kann vergeben, wenn er einer Gruppe angehört, die sagt: Versöhnung ist gut und richtig! "In Ruanda", sagt Leiner, "sind das eindeutig die christlichen Kirchen." Zwar haben auch andere Weltreligionen die Versöhnung im Programm – "aber die Botschaft der Feindesliebe steckt im Christentum zentral in den Ursprungstexten, im Alten Testament gibt es den großen Versöhnungstag, im neuen die Bergpredigt."
Der Forscher aus Deutschland kann vieles erklären. Aber wenn man sonntags in Ruanda den evangelischen Gottesdienst besucht, wenn man erlebt, wie witzig, wie empathisch und wie fröhlich gesungen und getanzt wird, dann bleibt trotz aller theologischen und soziologischen Erklärungen ein Staunen zurück. So viel Grauen vor 22 Jahren, so viel Lebensfreude im Jahr 2016. Es ist schon auch – ein Wunder.