"Besuchen Sie doch am Sonntag unseren Gottesdienst. Sie sind herzlich willkommen." Gerne wird die Einladung von Vannarith Chhim angenommen. Der Mann ist immerhin Präsident der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Kambodscha.
Der Gottesdienst findet in einem Mehrzweckraum in einem Haus in Khan Sensok, einem der vielen in den letzten Jahre wie Pilze aus dem Boden geschossenen Neubauviertel in der Nähe des Flughafens von Phnom Penh statt. Ein Großteil der Häuser in Khan Sensok steht allerdings mangels zahlungskräftiger Mieter oder Käufer leer.
Zwei Pastoren gestalten den Gottesdienst, der von einem Gitarristen und einem Keyboarder musikalisch begleitet wird. Die Schar der Gottesdienstbesucher ist überschaubar. Acht Erwachsene und zwei Kinder haben sich an diesem Sonntagnachmittag im Mai in dem funktional ausgestatteten Raum im ersten Stock mit dem improvisierten kleinen Altar und einem mächtigen Holzkreuz eingefunden. Phnom Penh ist fest im Griff einer Hitzewelle mit Temperaturen über 40 Grad. Da sind viele lieber in ihren klimagekühlten Wohnungen geblieben, als sich bei der Bullenhitze im Auto durch den mörderischen Verkehr zu dem Gottesdienst am Rand der kambodschanischen Hauptstadt zu quälen.Die Evangelical Lutheran Church of Cambodia (ELCC) ist ganz neu und ganz jung. Offiziell hat sie die regierungsamtliche Lizenz zum Beten am 14. September 2009 erhalten. Die Anfänge reichen nur wenig länger zurück. 2004 habe es die erste Übersetzung des Katechismus von Luther aus dem Englischen in Khmer gegeben, erzählt Vannarith Chhim.
Die Kirchen Kambodschas waren eines der vielen Opfer der Roten Khmer. Von den 2000 bis 3000 Christen, die vor der Machtübernahme der Roten Khmer im April 1975 in Kambodscha lebten, waren die meisten nach dem Ende des Terrorregimes im Januar 1979 entweder tot oder geflüchtet. Dank der hartnäckigen Missionierungsarbeit der wenigen Überlebenden gibt es 41 Jahre nach Pol Pot mehr als 300.000 protestantische Christen, deren Kirchen in der Evangelical Fellowship of Cambodia (EFC) zusammengeschlossen sind.
"Christ ist man nicht nur am Sonntag"
Eine Lutherische Kirche aber ist ein Novum. "Vor Pol Pot gab es zwar durch die Amerikaner viele evangelische Kirchen", sagt der 1982 – drei Jahre nach dem Ende des Khmer-Rouge-Regimes – geborene Vannarith Chhim. "Aber soweit ich weiß, war darunter keine lutherische Kirche."
Der als Buddhist aufgewachsene Vannarith Chhim fand 1999 durch einen Bibelfilm zum evangelischen Christentum lutherischer Prägung. "Ein Christus, ein Glauben, eine Schrift – das war eine machtvolle Botschaft", erinnert sich der Vater von zwei Töchtern. "Drei Monate nach dem Film habe ich mich taufen lassen. Meine Familie war darüber allerdings nicht glücklich. Sie sagten mir ‚Du begehst Verrat am Buddhismus’."
Timothy Sithee singt aus voller Brust mit schöner Stimme und spielt mit Begeisterung die Gitarre. Der junge Medizinstudent ist einer der beiden Musiker im Gottesdienst. Das Christentum hat der in dem Städtchen Battambang als Buddhist aufgewachsene junge Mann an der Universität in Phnom Penh angenommen. "Einer der Professoren erzählte uns von Christus. Das hat mich neugierig gemacht", erzählt Sithee nach dem Gottesdienst in nahezu perfektem Englisch.
Pastor Van Ravy ist über den schwachen Gottesdienst an diesem Sonntag nicht betrübt. "Das Gebet am Sonntag im Gottesdienst bringt Menschen zusammen", sagt Van Ravy. Fast noch wichtiger aber sei der Zusammenhalt der Gemeinde. "Christ ist man nicht nur am Sonntag. Bei Problemen helfen wir uns gegenseitig und bitten Gott durch Gebete um Hilfe. Gott antwortet aber nicht unbedingt direkt auf Gebete, sondern oft durch andere Menschen", findet der 30 Jahre alte, heiter und gelassen wirkende Pastor, der während des Gottesdienstes immer wieder stolz, glücklich und liebevoll auf seine Frau und seine beiden kleinen Kinder schaut.
Damals Buchdruck, heute Facebook
Van Ravy und Vannarith Chhim sind zwei der wenigen Vollzeitpastoren der ELCC. "Die meisten Pastoren sind ‚arbeitende Priester’", sagt ELCC-Präsident Vannarith Chhim. "Ihren Lebensunterhalt verdienen sie als Bauern oder Fischer. Die Arbeit als Pastor, den Job und die Familie unter einen Hut zu bringen ist nicht einfach, zumal die Gemeinden schnell wachsen." Die ELCC betreibt acht Volksschulen, ein Institut zur Pastorenausbildung und ist zudem im armen Kambodscha in der Entwicklungshilfe aktiv. "Wir unterhalten Projekte zur Wasseraufbereitung, zur Gesundheitsversorgung und zur Ausbildung von Frauen zu Näherinnen", erzählt Vannarith Chhim mit Stolz.
In diesem Jahr kommt noch die Arbeit für den Beitrag der ELCC zum Reformationsjubiläum 2017 hinzu. Das ehrgeizigste Projekt: die Übersetzung des Konkordienbuchs auf Khmer, die noch in diesem Sommer fertig werden und in Druck gehen soll. "Das wird von der Lutheran Heritage Foundation aus Detroit und von der Lutherischen Kirche von Kanada unterstützt."
Mit einer Reihe von Seminaren wollen die kambodschanischen Lutheraner sich zudem intensiv mit der Bedeutung von Reformation und Martin Luther in der heutigen Zeit auseinandersetzen. 2017 werden fünf Vertreter der ELCC nach Wittenberg reisen, ihre Kirche präsentieren, mit Lutheranern aus anderen Teilen der Welt Erfahrungen austauschen. Vannarith Chhim betont: "Wir arbeiten mit lutherischen Gemeinden aus Thailand und Vietnam zusammen."
Die Reise nach Wittenberg im kommenden Jahr wird für Vannarith Chhim nicht der erste Besuch im Heimatland Luthers sein. Vor ein paar Jahren hat er in Deutschland, einige der Wirkungsstätten von Luther besucht. "Eine der intensivsten Erfahrungen war für mich die Wartburg, wo Luther die Bibel übersetzt hat", erzählt Vannarith Chhim mit immer noch spürbarer Begeisterung. "Das hat Geschichte mit einem Mal wirklich und lebendig gemacht."
Vannarith Chhim zieht eine direkte Parallele von der Reformationsgeschichte zum heutigen Kambodscha: Damals habe in Deutschland die gerade erfundenen Drucktechnik dafür gesorgt, dass Luthers wortgewaltige Herausforderung der weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten ein Massenpublikum erreichte. Heute sei Kambodscha von zunehmender Unterdrückung, Verfolgung und willkürlicher Verhaftungen kritischer Journalisten, Umweltaktivisten und Oppositionspolitikern geprägt. "Für uns spielt heute Facebook eine zentrale Rolle. Die Erfindung der Druckerpresse war das Facebook der damaligen Zeit", findet Vannarith Chhim und fügt, ohne sich konkret zur politischen Situation seines Heimatlands zu äußern, lächelnd hinzu: "Gott sorgt dafür, dass die richtigen Kommunikationsinstrumente zur richtigen Zeit erfunden werden."