War Meister Eckhart (1260 - 1328) ein evangelisch denkender Mensch?
Volker Leppin: Er konnte im 14. Jahrhundert ja nicht im konfessionellen Sinne evangelisch sein. Aber evangelisch im Sinne der Orientierung an der Botschaft des Evangeliums, das finden wir bei ihm, und dabei auch vieles, was den Gedanken Luthers ähnelt. Natürlich gibt es auch Unterscheidendes: Eckhart hat ganz selbstverständlich in einer mittelalterlichen Welt gelebt, in der der Klerus eine ganz andere Bedeutung hatte als in den nachreformatorischen Kirchen. Für ihn war auch der Papst als oberste Autorität unhinterfragt gesetzt.
Welchen Einfluss hatte Eckhart auf die mystischen Wurzeln Martin Luthers?
Leppin: Meister Eckhart hatte einen indirekten Einfluss. Er starb noch während ein Inquisitionsverfahren gegen ihn lief. Nachdem er posthum 1329 vom Papst verurteilt worden war, konnten seine Werke nicht so leicht verbreitet werden. Aber viele seiner Predigten sind in eine Ausgabe von Johannes Tauler eingegangen, seines Schülers. Diese Predigtsammlung wurde um 1500 mehrfach gedruckt. Ein Exemplar hiervon hat Luther in den Jahren 1515/16 intensiv studiert. Bestimmte Gedanken, die später prägend für Luther werden, die entwickeln sich im Zuge dieser Lektüre Taulers und darin indirekt auch Meister Eckharts.
Welche Ideen von Eckhart sind bei Luther zu finden?
Leppin: Meisters Eckharts Gedanken über die Sünde finden sich in anderen Worten auch bei Luther: Alles, was ich habe, ist eigentlich nichts; alles, was ich habe, steht gegen Gott. Diesen Gedanken haben wir bei Meister Eckhart. Wenn wir an unserem Eigenen festhalten, dann ist da kein Platz für Gott. Deshalb müssen wir erstmal "zunichte"werden, damit Platz für Gott ist, so sagt es Eckhart. Diesen Gedanken hat Luther aufgenommen und neu formuliert – in der Unterscheidung "Gesetz und Evangelium“. Luther sagt, Gott hält uns das Gesetz entgegen, es zeigt, dass alles, was unser ist, Sünde ist und dann gibt er uns das Evangelium, um uns wieder aufzurichten. Das, was bei Luther das Evangelium ist, ist bei Meister Eckhart das Hineinfließen Gottes in den Menschen, der Platz für ihn gemacht hat. Eckhart spricht von der Geburt Gottes in der Seele.
In Eckharts Sprache macht man sich leer, bar des eigenen Willens, damit Gott im Menschen wirken kann.
Leppin: Ja, Eckhart nutzt dafür eine ganze Welt von Bildern. Das "leer werden"heißt bei Johannes Tauler "ich muss ein Abgrund werden" - bei Eckhart heißt es: "ich muss mich entbilden" - das heißt, ich muss frei werden von all den Bildern, die ich auf Gott projiziere, die ich aber auch auf mich projiziere. Damit soll Platz geschaffen werden für die Wirklichkeit Gottes, die jenseits unserer Bilder ist.
Eckhart hat wie Luther seine Botschaft ans einfache Volk gerichtet und auf Deutsch gepredigt und ist darüber mit der Amtskirche in Konflikt geraten – wie Luther?
Leppin: Bei Eckhart hat sich eine Kritik herausgebildet, weil er sich nicht mehr verstanden fühlte. Er wurde von dominikanischen Mitbrüdern als Häretiker angezeigt. Als er in Köln mit Anklagen konfrontiert wurde, da hat er noch auf den Papst vertraut. Und wollte lieber, dass sein Prozess beim Papst in Avignon stattfindet. Aber er hat dann gesehen, auch diese Verhandlungen sind nicht in seinem Sinne gelaufen. Insofern gibt es da eine Irritation, aber nicht die heftige Kritik, die sich bei Luther entwickelt, der den Papst am Ende als Antichrist bezeichnet.
Womit hat Eckhart möglicherweise die Reformatoren inspiriert?
Leppin: Dass Gott unmittelbar bei den einzelnen Menschen ist. Es muss nicht alles Heil über den Priester vermittelt werden. Das hat mehrere Auswirkungen, etwa beim Bußverständnis. Eckhart und auch Tauler sagt: Das einzig Wichtige ist, dass ich meine Buße vor Gott selbst bringe und wenn ich dann meine Sünden vergessen habe und zum Beichtvater gehe und dort nichts mehr sagen kann, dann macht das eigentlich nichts. Dieser Gedanke, dass Buße ein Vorgang unmittelbar vor Gott ist, nicht notwendigerweise vor dem Priester, dieser Gedanke entwickelt sich bei Luther dann ganz stark und fließt in seine 95 Thesen gegen den Ablass ein.
Ein anderer zentraler Punkt, den Eckhart angedeutet und sein Schüler Tauler weiterentwickelt hat, besagt: Jeder andächtige Mensch, egal ob Mann oder Frau, ist ein Priester. Luther macht daraus: Nicht nur jeder andächtige Mensch, sondern jeder getaufte Mensch, egal ob Mann oder Frau, ist Priester. Das ist der Gedanke des Priestertums aller Gläubigen, der das Scharnier bildet, warum überhaupt aus Theologie Reformation werden konnte.
Es gab noch eine Gemeinsamkeit zwischen Eckhart und Luther – beide predigten für das Volk.
Leppin: Genau das wurde Eckhart im Häresie-Prozess vorgeworfen, dass das Volk seine Predigten nicht versteht und es daher irregeleitet wird. In der Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts bildete sich die deutschsprachige Predigt als ein ganz wichtiges Medium heraus. Daran knüpft auch Luther an. Bei Luther kommt noch der große Einfluss des Humanismus dazu. Erasmus von Rotterdam fordert, dass man die Bibel in die Volkssprache übersetzt und das macht Luther dann ja.
Gibt es denn schon Bibelübersetzungen vor Luther?
Leppin: Ja, das beginnt schon früher. Vor der Reformation gibt es allein 14 Übersetzungen ins Hochdeutsche, aber noch aus der lateinischen Fassung, der Vulgata. Luther übersetzte aus den hebräischen und griechischen Urfassungen.
"Es geht darum, die eigene Haltung zur Welt zu korrigieren."
Welche Relevanz hat der Mystiker für aktuelle spirituelle und sozialpolitische Debatten um Freiheit – aus evangelischer Sicht?
Leppin: Auf der spirituellen Ebene gibt es Konzepte von Eckhart, die eine neue innere Freiheit versprechen. Eckhart begreift das "Arm sein" zunächst einmal als eine spirituelle Form. Arm sein heißt: nicht an den Dingen zu hängen. Es ist nicht die Frage, wieviel Geld habe ich in der Tasche, sondern ob ich daran hänge. Es geht darum, die eigene Haltung zur Welt zu korrigieren. Das ist zumindest indirekt ein Sozialprogramm und eine ungeheuer wichtige Aussage in unserer Gesellschaft, in der wir ständig an Konsumgütern hängen und uns teilweise auch über Konsumgüter identifizieren. Davon werden wir frei, wenn wir dem folgen, was bei Meister Eckhart "arm sein im Geiste" heißt.
Ist es nicht schwer, diese Haltung des Lassens einzuüben?
Leppin: Bestimmt. Aber man würde unglaublich viel dadurch gewinnen. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen darunter leiden, dass sie sich über Arbeit identifizieren. Und dann ist die Arbeit aber doch nicht so toll, dass man gut dasteht, sondern man sieht seine eigenen Grenzen in der Arbeit. Und dann von Eckhart zu hören: Nein, das ist es nicht, dadurch entsteht nicht meine Persönlichkeit, sondern vor allem Äußeren finde ich mich, indem ich mich in mich hinein versenke – das ist wichtig.