Herr Professor Strohm, das EKD-Reformationspapier "Rechtfertigung und Freiheit" wird von gleich mehreren Seiten angegriffen. Haben Sie Verständnis dafür?
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Christoph Strohm: Ich halte die Kritik der Kollegen Kaufmann und Schilling der Form wie der Sache nach für unangemessen und überzogen. Man kann immer kritische Rückfragen an ein solches Papier stellen, aber die Pauschalität und Schärfe der Kritik ist mir nicht verständlich. Die EKD hat das gute Recht, eine Kommission zu benennen, um nach Bedeutung und Relevanz reformatorischer Theologie für die Gegenwart zu fragen. Das geschieht im Bewusstsein der Distanz zum 16. Jahrhundert, die mehrfach betont wird.
Die Kritiker sprechen von einer "Desavouierung" des Wissenschaftlichen Beirats des Reformationsjubiläums 2017.
Strohm: Man konstruiert hier eine unsinnige Konkurrenz zu einem Gremium, das im Auftrag von Staat und Kirchen die Jubiläums- beziehungsweise Gedenkveranstaltungen 2017 koordinieren soll. Dieses hat andere Aufgaben, ist aus sehr unterschiedlichen Mitgliedern zusammengesetzt und arbeitet unter Leitung eines katholischen ehemaligen Bundesverfassungsrichters. Es gibt überhaupt nichts daran zu kritisieren, dass die EKD eine Kommission beruft, die in gut evangelischer Tradition aus evangelischen Christen ganz unterschiedlicher Qualifikation zusammengesetzt ist und eine konkrete Aufgabe gestellt bekommt.
Kaufmann und Schilling werfen dem Dokument Einseitigkeit und eine "Lutherideologie" vor.
Strohm: Man kann darüber diskutieren, ob das Papier der Pluralität der Reformation voll gerecht wird. Den Vorwurf der "Lutherideologie" aber halte ich für undiskutabel und herabsetzend. Aufgabe war eine innerprotestantische Verständigung darüber, welche Bedeutung und Gestalt die reformatorische Lehrbildung und Frömmigkeitspraxis in der Gegenwart haben könnte. Das geschieht unter der Überschrift "Rechtfertigung und Freiheit".
Der Historiker weiß, dass die Rechtfertigung in den Lehrbildungen der einzelnen Reformatoren einen unterschiedlichen Stellenwert hatte. Für Luther ist der Zusammenhang von "Rechtfertigung und Freiheit" charakteristisch. Sowohl die Rechtfertigung als auch die Betonung der christlichen Freiheit spielte im Blick auf die Attraktivität reformatorischen Gedankenguts in der Frühzeit der Reformation eine zentrale Rolle. Auch wenn für den französischen Reformator Johannes Calvin zum Beispiel andere Zuspitzungen der Heilsbotschaft wie die Rede von der Erwählung und Fürsorge wichtiger werden, bleibt der gemeinsame Ausgangspunkt. Calvins Weg zum Reformator ist und bleibt aufs Stärkste durch Luthers reformatorischen Aufbruch bestimmt. Die französischen Protestanten wurden anfangs "luthériens" genannt, Lutheranhänger.
Beim Zürcher Reformator Zwingli ist die Sache durchaus kompliziert. Aber es gibt in der Forschung einen Konsens, dass auch er deutlich von Luther inspiriert ist.
"Es ist gerade heute wichtig, die religiöse Dimension der Reformation klar herauszuarbeiten"
Dem Papier wird ferner vorgehalten, es löse die Reformation als religiöses Ereignis aus dem historischen Zusammenhang.
Strohm: Um handhabbar zu bleiben und in der Verkündigung und im Unterricht der Gegenwart rezipiert zu werden, muss ein solches Papier begrenzt bleiben. Insofern werden den ökonomischen, politischen und mentalitätsgeschichtlichen Kontexten nur sehr begrenzte Ausführungen gewidmet. Sie werden nicht ausgeblendet.
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Natürlich ist die Gestaltwerdung und außerordentliche Attraktivität der Reformation nicht ohne die Berücksichtigung solcher Kontexte zu verstehen. Beispielsweise könnte man einen verbreiteten, nicht zuletzt ökonomisch bedingten Antiklerikalismus nennen. Aber es ist gerade heute wichtig, die religiöse Dimension der Reformation klar herauszuarbeiten. Denn in der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit scheint Religion ein vergleichsweise nebensächliches Phänomen privater Lebensführung geworden zu sein. Das war im 16. Jahrhundert ganz anders. Wirklichkeit wird wesentlich durch die Wahrnehmung der Menschen konstruiert, und hier spielten religiöse Wahrnehmungsmuster wie die Angst vor der ewigen Verdammung oder das Verständnis der Obrigkeit als Vertreter Gottes eine zentrale Rolle. Genau darauf geht der Grundlagentext der EKD ein, ohne den mehrfach betonten Abstand zum 16. Jahrhundert in unhistorischer Weise einzuebnen.
Ich bin mit den Kollegen Kaufmann und Schilling einer Meinung, dass man heute sehr deutlich die historischen Folgen der Reformation über das kirchliche Leben hinaus in den Blick nehmen muss. Das ändert aber nichts daran, dass die evangelische Kirche sehr gut daran tut, konzentriert ihr Erbe auf die Tauglichkeit für das gegenwärtige Lehren und Leben in der Kirche hin zu befragen.
Die katholische Seite kritisiert, "Rechtfertigung und Freiheit" sei zu wenig ökumenisch und berücksichtige nicht die Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte. War das denn der Anspruch des Papiers?
Strohm: Es gibt viele Versuche, in der Ökumene voranzukommen, auch entsprechenden schriftlichen Ertrag. Das EKD-Papier zielt aber ausdrücklich nicht auf dieses Thema, sondern fragt konzentriert, welches noch heute relevante besondere Profil reformatorische Theologie auszeichnet. Das ist legitim - und geschieht in ökumenischem Geist. Es ist falsch, dem Papier vorzuwerfen, dass die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" "mit keinem Wort auch nur erwähnt" werde. Vielmehr wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Rechtfertigungslehre mit der römisch-katholischen Kirche "gemeinsam formuliert werden kann".
Auch wird in dem Text der frühere Papst Benedikt XVI. zitiert, der noch als Kardinal die Reformation als Chance zur Pluralisierung würdigte - früher sahen sie die Katholiken immer nur als schlimme Kirchenspaltung und Wunde am Leib Christi. Anders als diese eindeutig negative Sicht hat Joseph Ratzinger auf Liberalisierungstendenzen und eine besondere Frömmigkeit hingewiesen, die er durchaus als Chance auch für die katholische Kirche begreift. Ich kann zwar Kardinal Kasper verstehen, der mit dem EKD-Dokument nicht wirklich zufrieden ist, weil er darin den Versuch sieht, das Reformatorische wieder etwas stärker zu profilieren. Doch das muss überhaupt kein Schaden für die gemeinsame Christenheit sein. Im Gegenteil.
"Es gibt von evangelischer Warte durchaus Grund zur Freude, dass es die Reformation gegeben hat"
Es gibt erste katholische Stimmen, denen zufolge alle Einladungen zu den Reformationsfeierlichkeiten ausgeschlagen werden sollten. Wie kann man 2017 ökumenisch begehen?
Strohm: Es gilt herauszustellen, dass die Reformation Ausgangspunkt nicht nur einer Kirchenspaltung, sondern auch einer kulturgeschichtlich außerordentlich produktiven konfessionellen Pluralisierung gewesen ist. Die römisch-katholische und die evangelischen Kirchen, aber auch die westliche Zivilisation insgesamt haben von der Konkurrenz der Konfessionen in hohem Maß profitiert.
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Wir sollten zudem zwischen Feier und Gedenken unterscheiden. Es gibt von evangelischer Warte durchaus Grund zur Freude, dass es die Reformation gegeben hat. Doch ein Rückblick sollte nicht nur Jubiläum sein, sondern mit der kritischen Nachfrage über die problematischen Folgen verbunden sein. Zum anderen geht es um die politik-, kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung der Reformation. Das ist eine Aufgabe, die weit über die beiden Kirchen hinaus relevant ist - sie sollten dabei unbedingt an einem Strang ziehen.
Das geschieht in sehr guter Weise durch den wissenschaftlichen Beirat, der die Aktivitäten von Staat und Kirchen begleitet. Man kann die Reformation als großen Schatz würdigen und zugleich gemeinsam über die geschichtlichen Folgen nachdenken. "Luther und die Deutschen", das ist beileibe kein Ausstellungsthema, das man feiernd und sich selbst beweihräuchernd darstellen kann. Es gibt Risiken, aber wir sind auf einem guten Weg.
Können beide Kirchen gemeinsam aus der Reformation lernen?
Strohm: Sie sollten sich fragen, wie heute die Gestalt der christlichen Botschaft und des christlichen Lebens aussieht. Was hat die Reformation an gültigen, auch heute noch interessanten Impulsen zu geben, von welchen Dingen muss man Abschied nehmen? Dies ist zuerst von jenen zu thematisieren, die sich als Rechtsnachfolger der reformatorischen Kirchen sehen - im Gespräch mit katholischen Theologinnen und Theologen sowie auf allen Ebenen, auch etwa in den Gemeinden.
Eine große Chance liegt darin, dass sich die evangelischen Christen für ihre Zuspitzungen rechtfertigen und unter Umständen Relativierungen vornehmen müssen. Aber auch die katholischen Partner könnten an bestimmten Stellen - zum Beispiel die Auffassung vom Priestertum aller Getauften - Impulse aufnehmen. Beim Nachdenken über die Reformation müssen wir uns immer wieder vor Augen führen: Es ging im 16. Jahrhundert um ganz andere Polarisierungen als heute. Die katholische Kirche der Gegenwart, die sich am Zweiten Vatikanischen Konzil orientiert, hat wesentliche Anliegen der Reformation aufgenommen. Das sollte deutlich hervorgehoben werden und ist ein Anlass zu echter Freude.