Auch wenige Monate vor dem Beginn der Feiern zum 500. Reformationsjubiläum 2017 treibt Theologen und Kirchenleute noch immer ein Frage um: Welche Konsequenzen sollen die Protestanten aus den judenfeindlichen Schriften ihres Reformators Martin Luther (1483-1546) ziehen? Ging es bisher meist um die geschichtliche Wirkung der Schriften bis in das 20. Jahrhundert, stehen nun mit dem Bekenntnis zu Christus und der Rechtfertigung allein aus Gnade zentrale theologische Überzeugungen im Mittelpunkt.
Nach Ansicht der Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg gehen manche Theologen - und auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) - zu weit in ihrer Abgrenzung vom Reformator und in der Annäherung an die Juden: Sie seien dabei, die eigene Tradition abzuschmelzen, "bis kein fundamentaler Widerspruch anderer und zu anderen mehr übrig bleibt", schreibt Professorin Wendebourg in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift "Zeitzeichen" und kritisiert, das Reformationsjubiläum solle zur großen Feier der "theologischen Harmlosigkeit" werden.
Kein Gegensatz zum Judentum, sondern Unterschied
Wendebourg sieht die Gefahr, dass die Theologen eine zentrale Grundlage des Protestantismus und der Christen überhaupt aufgeben: Jesus von Nazareth ist Sohn Gottes und Erlöser. Das stelle die Protestanten in Gegensatz zu den Juden, die in Jesus nicht den von ihnen erwarteten Messias sehen. Genau diese "einander widersprechenden religiösen Überzeugungen" müssten heute im jüdisch-christlichen Dialog ausgehalten und nicht eingeebnet werden, fordert Wendebourg: "Friedliches Zusammenleben und religiöser Gegensatz schließen einander nicht aus."
Dem widerspricht ihr Professorenkollege Volker Leppin entschieden: Es gebe "keinen Gegensatz zum Judentum, sondern einen Unterschied", sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Judentum und Christum seien Geschwisterreligionen. Dabei bezieht sich der Tübinger Professor für Kirchengeschichte vor allem auf die Rechtfertigungslehre. Seiner Ansicht nach ist die Überzeugung Luthers, dass die Juden eine harte Gesetzesreligion vertreten und danach trachten, nur durch Werke gerechtfertigt zu werden, der Grund für die Ablehnung des Judentums durch den Reformator.
Heute sähen jüdische und christliche Theologen das aber anders, betont Leppin: Das scharfe Gegeneinander von Gnade und Gesetz gebe es nicht, stattdessen sehe das Judentum "das Gesetz als Gnadengabe". Er sagt: "Gnadentheologie gibt es auch bei Katholiken und Juden, wenn auch in anderer Zuspitzung als bei den Protestanten". Deshalb gehe es um Unterschied, nicht um Gegensatz.
Wendebourg hingegen wertet den Umstand, dass die Juden Christus abgelehnt haben, als zentralen Kritikpunkt Luthers. Und weil Luther in seinen späten Lebensjahren diesen Widerspruch von Verheißung und Erfüllung nicht aushalten konnte, hat er so stark gegen das Judentum gewettert, schlussfolgert sie. Für ihn sei es "rational und zwingend" gewesen, das Alte Testament im Lichte Jesu Christi auszulegen. Deshalb habe er keinen religiösen Gegensatz gesehen, sondern ein "schuldhaftes moralisches Versagen" der Juden, dass sie Christus nicht anerkennen wollen.
Nicht von der zentralen Botschaft verabschieden, sondern von Luthers Konsequenzen
Deshalb sollten sich Kirche und Theologie heute nicht von ihrer zentralen Botschaft verabschieden, sondern von den Konsequenzen, die Luther aus dem Gegensatz gezogen hat, fordert Wendebourg, die auch Vize-Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für das Reformationsjubiläum ist.
Die Rechtfertigungslehre hingegen, die Leppin in den Mittelpunkt stellt, ist nach Ansicht Wendebourgs letztlich für Luther "nicht der springende Punkt für seine Haltung gegenüber dem Judentum" gewesen. Das wiederum kritisiert Leppin: Wendebourg "schiebt die Rechtfertigung beiseite".
Aus diesen unterschiedlichen Schwerpunkten ergeben sich auch unterschiedliche Bewertungen der Kundgebung "Martin Luther und die Juden", die die EKD-Synode im November 2015 verabschiedete. Leppin lobt, dass die Kundgebung keine fertigen Antworten liefert sondern sagt: Wir müssen nachdenken. Wendebourg hingegen kritisiert die Schrift als "nebelhaft" und wirft den Zustimmenden vor, die eigenen Traditionen abzuschmelzen und Überzeugungen aufzugeben.
Die Debatte wird wohl nicht auf der akademischen Ebene bleiben. Bis November will die Synode der EKD, das Kirchenparlament, eine einheitliche Haltung zur Judenmission finden. Auch in der Diskussion, ob Christen Juden missionieren dürfen, geht es um zentrale Glaubensüberzeugungen und den Dialog der beiden Religionen.