Tief hängt der Nebel in den Straßen von Rutesheim. Das Städtchen westlich von Stuttgart döst an diesem Sonntagmorgen um halb 10 noch, als die Glocken der Evangelisch-methodistischen Markuskirche läuten. Württemberg ist das Herz der methodistischen Kirche in Deutschland. In Rutesheim ist heute Pastorin Kerstin Gottfried dran mit Gottesdienst. Um fünf Gemeinden kümmert sie sich mit zwei männlichen Kollegen. Fünf Minuten lang läuten die Glocken, Zeit für die Gemeinde, Platz zu nehmen. 13 Bankreihen links, 13 Bankreihen rechts, auf denen kein Gedränge herrscht. Aber der Gottesdienst ist gut besucht.
Mit dem Kinderlied "Vom Anfang bis zum Ende. Immer und überall" mitsamt Bewegungen beginnt der Gottesdienst schwungvoll. Für die Kinder geht es nach nebenan, in die Sonntagsschule, die Sonntagsschulkerze in der Hand. Nach dem bunten Anfang dominieren jetzt weiße und graue Schöpfe die Holzbänke. Die Älteren erinnern sich, wie in den 50er und 60er Jahren bis zu 120 Kinder in der Sonntagsschule saßen. Die wenigsten waren Methodisten, doch um ihre Kinder beschäftigt zu wissen, schickten die Eltern aus dem Dorf die Kinder sonntags eben zur methodistischen Gemeinde. "Aber nur bis zur Konfirmation, dann ging es in die evangelische oder katholische Kirche."
Das Gleichnis vom Schalksknecht wird erzählt: Knecht I schuldet seinem König umgerechnet 20 Millionen Euro. Die kann er nicht bezahlen und bittet um Erbarmen, woraufhin ihm die Schulden tatsächlich erlassen werden. Doch Knecht I fordert von Knecht II seine Schulden ein und lässt ihn erbarmungslos ins Gefängnis sperren. Davon hört der König, welcher Knecht I daraufhin auch ins Gefängnis wirft.
"Gebet, Mitarbeit und regelmäßige Gaben"
Und noch ein Lied:" Herr das Licht deiner Liebe leuchtet auf". Methodisten setzen auf eine lebendige Gemeinde, das wird nicht nur in den Ankündigungen deutlich: Der Männerchor probt gleich im Anschluss, das monatliche Erzählcafé steht an, Anregungen für das Bibelgespräch liegen aus, der Weihnachtsbasar muss vorbesprochen werden, die Sportgruppe trifft sich, die Jungschar "Kleine Strolche" kommt am Dienstag zusammen, montags der "Teenykreis", Jugendliche ab 14 treffen sich donnerstags zum "Jugendkreis reloaded". "Friday-Movie" bietet Kino in der Kirche, dazu kommen Männerfrühstück und Seniorenkreis, Selbsthilfegruppe "Mit Krebs leben" sowie Veranstaltungen mit Handarbeiten, Deutschunterricht und Gesellschaftsspielen.
"Das nächste Mal das Kuvert zum Missionsopfersonntag nicht vergessen!“, erinnert Kirchenglied Erwin Haug. Das Spendensammeln liegt Haug am Herzen: "Schließlich müssen wir dankbar sein, dass wir hier so gut leben dürfen." Er schwärmt vom Alphabetisierungsprogramm in Malawi, wirbt für den Kampf gegen AIDS in Kenia, Sozialprojekte für Obdachlose und alleinerziehende Mütter in Brasilien.
Eine Kirchensteuer gibt es nicht, stattdessen setzen Methodisten auf freiwillige Beiträge und eine "verbindliche Kirchengliedschaft". Kirchenglieder sollen sich am "Leben der Gemeinde beteiligen und sie durch Gebet, Mitarbeit und regelmäßige Gaben fördern". Gottesdienste gestaltet die Gemeinde gemeinsam, festangestellte Organisten, Chorleiter oder Kantoren gibt es nicht, auch heute sitzt ein Ehrenamtlicher am Klavier. Auch Laien können die Bibel auslegen, weil das Aufgabe aller Christen sei.
Doch heute ist Pastorin Kerstin Gottfried dran, eine zierliche Frau mit praktisch-modischer Kurzhaarfrisur – wie die meisten hat auch sie an der Theologischen Universität Reutlingen studiert. Hinter ihren Pult steht sie nur zwei, drei Stufen höher als ihre Gemeinde, als sie gemeinsam "Liebe, komm herab zur Erde" singen, ein Lied aus der Feder von Charles Wesley, neben seinem Bruder John und George Whitefield Mitbegründer der methodistischen Bewegung in England.
Liebe, komm herab zur Erde!
Die du nicht von dieser Welt,
mach, daß sie die deine werde,
schlage bei uns auf dein Zelt!
Liebe, komm, du heißt Erbarmen,
keine Schranke schränkt dich ein,
darum lass auch bei uns Armen
heute dein Erbarmen sein.
Gottfried kommt auf das Gleichnis mit dem Schalksknecht und seinen Schulden zurück. Wie konnte der nur so schnell vergessen, welch Barmherzigkeit ihm gewährt wurde? Wie konnte er nur so unbarmherzig seinem Mitknecht gegenüber sein? "Manchmal bin ich nicht besser als dieser Knecht", gesteht Gottfried. Warum?
Sie zielt mit der kleinen Fernbedienung in ihrer Hand auf den Beamer. In ihrem Rücken springt die erste Folie einer Powerpoint-Präsention an die Wand. "Stehen wir nicht alle in der Schuld Gottes, weil er uns unzählige, unglaubliche Möglichkeiten geschenkt hat? Doch missachten wir allzu oft die damit einhergehende Pflicht, diese Barmherzigkeit an unsere Mitmenschen weiterzugeben."
Beispiel gefällig? "Vor dem Kindergarten sammelte neulich jemand Unterschriften gegen das Flüchtlingsheim, reine Meinungsmache. Keine alleinstehenden Männer dürften in den Ort kommen, dann könne man die Kinder ja nicht mehr alleine raus oder die Mädchen mit Rock zur Schule lassen. Ich bin weitergelaufen, ohne mich dazu zu äußern, obwohl mich diese Propaganda traurig gemacht hat. Ich hätte etwas sagen sollen. Hier bin ich schuldig geworden."
"Ich bin herausgefordert zu vergeben"
Klick, nächste Folie. Der Ausweg: Jeder dürfe um Vergebung bitten und diese empfangen. "Unter der Vergebung leben, das ist geradezu ein Rausch der Freude und der Erleichterung", zitiert Gottfried den Theologen Helmut Thielicke. Um in den Genuss der Vergebung zu kommen, müsse der Mensch seine Sünden bereuen und sich die Liebe Gottes schenken lassen. Und dann könne man die Liebe Gottes und die Vergebung weiterschenken.
Klick, nächste Folie. Gottfried zitiert aus dem Matthäusevangelium 18, 21-22: "Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal."
Nach Wesley gilt Gottes Gnade allen Menschen. Gott biete auch allen Erlösung an – die hängt allerdings ab von der Antwort des Menschen auf dieses Angebot. "Ich bin herausgefordert zu vergeben, mich selbst mit deinen barmherzigen Augen zu sehen." Vergebung sei nicht in uns, sie rage vielmehr über uns hinaus und ist nie voll in unserer Verfügung.
Gottfried beendet ihre Predigt: "Herr, wir bringen vor dich all das, was uns bewegt, im stillen Gebet." Eine knappe Minute Schweigen kehrt in die Gemeinde in. "Wir denken an alle, die nicht im Gottesdienst kommen konnten. Oder wollten. Zeig uns deine Barmherzigkeit jeden Tag aufs Neue!", sagt Gottfried, bevor die Gemeinde das Vater Unser anstimmt.
Es folgt – während der Kollekte – ein rascher Lobpreis: "Was ich erträume, hast du schon getan. / Seh‘ ich den Weg nicht, gehst du ihn voran. / Was ich auch denke bei Tag und bei Nacht, / du, Gott, hast immer schon an mich gedacht."
Pastorin Gottfried schließt mit dem Segen für die Gemeinde, die unter Klavierklängen den Raum verlässt. Genau eine Stunde hat der Gottesdienst gedauert. Es ist eilig, der Männerchor steht schon bereit. Probe für die "Festliche Abendmusik“ am Abend. Bald steht die Feier zum 150-jährigen Bestehen an. Die Großeltern von Johanna Gunzenhäuser bauten damals mit an der Kapelle, an deren Platz die heutige Markuskirche in Rutesheim steht. Sie schätzt den lebendigen Glauben und die lebendige Gemeinde. Zwei ihrer fünf Kinder seien in der Evangelisch-Methodistischen Kirche geblieben. "Ein ganz guter Schnitt", lacht Johanna Gunzenhäuser und geht hinaus in den Nebel von Rutesheim.