Kirchengemeinde beim Gottesdienst in der SELK Verden.
Foto: Cornelia Kurth
Gottesdienst in der SELK Verden: Die Gemeinde kann alle texte und Melodien auswendig.
Jeder kennt jedes Wort
Alte liturgische Formen und eine große Verbundenheit gehören in der SELK Verden zusammen
Hier gibt es noch eine Beichte mit anschließender Handauflegung, hier wird ein Glaubensbekenntnis mit Formulierungen von 1538 gesprochen und jeden Sonntag das Abendmahl gefeiert. Der Besuch in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Zionsgemeinde in Verden hat unsere Reporterin Cornelia Kurth beeindruckt. Teil vier unserer Serie "Was glaubt ihr? evangelisch.de besucht Freikirchen": Eine Reportage aus der SELK.

Ist denn heute irgendein Festtag? So viele Menschen gehen auf die ungewöhnliche kleine Kirche zu, Alte und Junge, Kinder und Jugendliche, insgesamt weit über hundert, die sich untereinander begrüßen und dann durch die Kirchentür treten, über der in großen Buchstaben "Ich bin die Tür" steht. "Das ist ganz normal. Bei uns kommt immer die halbe Gemeinde zum Gottesdienst", sagt Imke Grünhagen-Voß, die Frau von Carsten Voß, dem Pastor der Zionsgemeinde im niedersächsischen Verden. "Sie sollten mal einen Festgottesdienst besuchen. Da passen wir nur mit größter Mühe alle in die Kirche."

Es ist sowieso gar nicht leicht, einen Platz auf den langen Bänken zu finden, die von keinem Mittelgang unterbrochen sind. Doch wenn man sich schließlich von rechts oder von links an den Brüdern und Schwestern vorbei gedrängelt hat, den Blick auf das überaus eindrucksvolle hohe Kirchenfenster hinter dem Altar gerichtet, wo Christus im Gegenlicht vom Kreuz herab seine Schützlinge im Blick zu haben scheint, wenn dann langsam Ruhe einkehrt, nur noch unterbrochen von mancher hellen Kinderstimme, und dann von der Empore die Posaunen erklingen und die Gemeinde einen Gesang beginnt, der klingt, als singe hier ein großer Kirchenchor, dann kann man kaum anders denken als: So, genau so muss es sein!

Dass diese mit ihren 340 Mitgliedern doch eher kleine Gemeinde so viel Gottesdienstlebendigkeit ausstrahlt, wie es sich die meisten "normalen" evangelisch-lutherischen Gemeinden nur erträumen können, hat mit ihrer Geschichte von Aufruhr und "Separatistentum" zu tun. Die Verdener Zionsgemeinde gehört zur "Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche" (SELK), die sich besagte Selbständigkeit wacker und teuer erkämpfte. Von der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts erfasst, waren es hier vor allem die Leute vom Dorfe, die sich von der Hannoverschen Landeskirche abwendeten, und damit auch vom übermächtig prächtigen Verdener Dom, der sich wie ein steinerner Riese genau gegenüber der kleinen Zionskirche erhebt.

Auch heute noch leben die meisten Gemeindemitglieder in den umliegenden Dörfern und nehmen für den Gottesdienst lange Wege auf sich. Von der gewissen Trotzigkeit, die ihre Vorfahren damals vor fast 140 Jahren zu ihrer Selbstbehauptung bewiesen haben mussten, ist im heutigen Gottesdienst allerdings nichts zu spüren. Innigkeit wäre ein passenderes Stichwort.

"Dir sind deine Sünden vergeben", hört jeder Einzelne

Jeder kennt jedes Wort des ausführlichen liturgischen Wechselgesanges zwischen Pastor und Gemeinde, jeder weiß jede Melodie der gesungenen Lieder, und laut und stark ertönt das gemeinsame Glaubensbekenntnis, das neugierigen Besuchern aus dem Dom von gegenüber wohl etwas verunsichern würde, spricht man doch die Worte des Nizänischen Bekenntnisses, das länger ist als das Apostolische, sich bewusst an der Luther-Übersetzung von 1538 orientiert und insgesamt sinnlicher wirkt durch Formulierungen wie: Christus, "welcher um uns Menschen und um unserer Seligkeit willen vom Himmel gekommen ist und leibhaft geworden durch den heiligen Geist von der Jungfrau Maria und Mensch geworden, auch für uns gekreuzigt durch Pontius Pilatus, gelitten und begraben".

Pastor Carsten Voß musste sich erst umgewöhnen, als er vor vier Jahren aus Duisburg, wo er die Ämter des Superintendenten und Propsts innehatte, die Stelle in Verden übernahm. In der Duisburger SELK-Gemeinde kamen viele Gemeindemitglieder mit ihren Partnern aus anderen evangelisch-lutherischen Kirchen zum Gottesdienst, und so entschied man sich dort für eine revidierte Fassung des Apostolischen Bekenntnisses. Tatsächlich hat Carsten Voß zu Anfang die falschen Worte gesprochen, ein Fehler, der ihm zum Glück schnell verziehen wurde.

Pastor Carsten Voß.

Überhaupt wirkt das Verhältnis zwischen Pastor und Gemeinde vertraut, manchmal auch vertraulich, was besonders deutlich wird, als er die Kinder nach vorne ruft, um sie mit einigen jungen Mitarbeiterinnen zum Kindergottesdienst im Gemeindehaus zu entlassen. Heute zeigt er den Kleinen, wie die Hirsche auf dem Bildteppich an der Kanzel niemanden aus ihrem Blick verlieren, egal, wo man sich hinstellt. Hoch interessiert probieren das die Kinder aus, bevor sie fröhlich aus der Kirche hinausstapfen, dabei oft schon eine Münze in der Hand, die sie in die Spendendose stecken werden, die gleich zu Beginn im Kinderkreis herumgereicht wird. In einer Freikirche, die sich ausschließlich von den Geldern der Mitglieder finanziert, geht ohne freudiges Spenden gar nichts.

Carsten Voß ist 50 Jahre alt und übernimmt, bei aller jugendlichen Ausstrahlung, doch auch eine Art väterliche Rolle gegenüber seiner Gemeinde, etwa in der diesem Gottesdienst vorausgegangenen Beicht-Andacht, einer Besonderheit der SELK. Etwa dreißig Menschen waren da bereits um neun Uhr gekommen, um nach einigen meditativen Worten des Pastors und dem gemeinsamen Sündenbekenntnis alle nach vorne an den Altar zu treten. "Dir sind deine Sünden vergeben", hört jeder Einzelne, während der Pastor ihm dabei seine Hand aufs Haupt legt. "Den reformatorischen Verzicht auf die Einzelbeichte haben viele durchaus als Verlust empfunden", sagt Carsten Voß. "Deshalb gibt es bei uns Beichtgottesdienste, unabhängig von den Hauptgottesdiensten mit Abendmahl. Deshalb auch diese Geste des Handauflegens, des offensichtlichen Verzeihens, zu dem der Pastor die gottgegebene Vollmacht besitzt. Wir lehren: Wo jemand seine Sünden bekämpft und bereut hat, interessieren sie Gott nicht mehr, nie mehr."

Seine Predigt ist lang. Es dürften an die zwanzig Minuten gewesen sein, angemessen in einer Kirche, die sich unter anderem deshalb gründete, weil die Menschen damals fanden: "Der Pastor glaubt ja gar nicht an das, was wörtlich in der Bibel steht." Trotz ihrer Länge kommt keinerlei Ungeduld auf. Sie wollen es eben genau wissen. Das Thema orientiert sich an Lukas 17, Verse 11 bis 19, dem Bericht davon, wie Jesus auf dem Weg nach Jerusalem durch Samarien und Galiläa zog, wo er zehn Aussätzigen Heilung verschafft. Carsten Voß spricht von gesellschaftlichen Außenseitern, von Ausgrenzungen, Hartherzigkeiten und davon, wie Christus sich der Geschundenen erbarmt. Der eigentliche Kern seiner Predigt dreht sich um die Kraft des Glaubens. Die Aussätzigen sollten sich dem Priester zeigen, obwohl sie zunächst noch gar nicht gesundet waren. Sie tun es und erweisen sich als geheilt.

Seine Predigt führt hin zum Abendmahl, das in jedem Hauptgottesdienst gefeiert wird und mit ein Grund dafür ist, dass die SELK-Gottesdienste sehr viel Zeit in Anspruch nehmen: 130 Menschen, die nach ausführlicher Liturgie vom Pastor das Abendmahl empfangen, mit dem Versprechen, dass es sich bei Brot und Wein um den "wahren Leib Christi" handele. Dieser Glaube, dass Gott im Abendmahl real präsent ist, dass das Heilige Abendmahl mehr sei als ein bloßes Gedenkmahl ist, war der Grund, warum im 19. Jahrhundert viele Gläubige nicht mitmachen wollten, als sich lutherische Kirchen mit den so nüchternen reformierten Kirchen als "Unierte" zusammenschlossen. Die Reformierten sehen in den Abendmahlselementen lediglich Zeichen für Christi Gegenwart. Am Ende der Feier in der Verdener SELK gehen Brot und Wein in die Hände eines Gemeindemitgliedes über, damit auch der Pastor sein Abendmahl empfangen kann.

Die Zionskirche in Verden.

Noch lange stehen dann Gottesdienstbesucher plaudernd vor der Kirche. Sie kennen sich alle und viele sind miteinander verwandt. Was die Glaubensinhalte betrifft, so dürfte es trotz der Unterschiede kaum Probleme geben, sich der evangelisch-lutherischen Landeskirche anzuschließen. Aber sie alle stehen hier vor "ihrer Kirche", die im Jahr 1938 vom jungen Berliner Architekten Richard Dienegott Oertwig geplant und mit Hilfe der Gemeinde gebaut wurde. Gemeindehaus und Pfarrhaus liegen auf einem schönen Stadtgrundstück, das einst von einer frommen Gräfin gespendet wurde. Auch Carsten Voß und seine Familie mit den drei Töchtern, die es erst gar nicht so leicht fanden, aus ihrer Großstadtgemeinde ins ländliche Verden umzuziehen, haben die Zionskirche und ihre Gemeinde längst als "ihre Kirche" ins Herz geschlossen.