Amir ist kein Mann der kleinen Schritte. Vom Startpunkt des Parcours aus macht er einen großen Ausfallschritt Richtung Ziel und beugt sich vor. Er konzentriert sich, kneift die Augen zusammen und wirft: Die Frisbee segelt federleicht in einer Kurve zum nächsten Checkpoint. "Hast du das gesehen?“, jubelt der 16-Jährige. Erst vor ein paar Tagen hat er mit Disc-Golf angefangen, einer Minigolf-Frisbee-Variante. Statt Bälle einzulochen müssen die Spieler Frisbees an eine Reihe von Checkpoints bringen. Der lachende, großgewachsene Junge mit den leuchtend grünen Augen ist blutiger Anfänger, doch schon jetzt gelingt ihm ein Hole-In-One: ein Wurf, ein Treffer. Selbst der Trainer hat das nicht geschafft. Amir läuft freudestrahlend über den Platz, ein sorgloser Teenager in Siegerlaune. Keine Spur von dem nachdenklichen iranischen Flüchtling, der in seiner Gemeinschaftsunterkunft in Tübingen auf den Brief von den Asylbehörden wartet. Nicht heute. Heute tobt Amir im Ferienlager mit anderen Kindern über die Schwäbische Alb.
Vor einem Jahr waren Frisbee-Sport und Albwiesen noch weit weg. Amirs Familie lebte im Nordiran. In dem muslimisch geprägten Land gehörten sie zu einer christlichen Minderheit. "Im Iran darf man nicht einfach eine andere Religion haben oder seine Religion wechseln“, sagt Amir. Als seine Eltern die Angst nicht mehr ertrugen, packten sie das Nötigste ein und begaben sich mit ihren Kindern auf eine Reise mit ungewissem Ausgang. Sicher war nur ihr Ziel: Deutschland.
Zu Fuß über die Grenze in die Türkei, von dort mit einem Boot nach Griechenland. Ein Netzwerk aus Schleusern verschaffte Amir, seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder Unterkünfte und die Transportmittel auf dem Weg nach Europa. "Insgesamt hat unsere ganze Reise über fünf oder sechs Monate gedauert“, erzählt Amir. In Griechenland warteten gefälschte Pässe und Flugtickets auf sie, one-way nach Frankreich. Von dort war es nur noch ein Katzensprung nach Karlsruhe.
"So richtiger Urlaub?" - "So richtiger Urlaub!"
Baden-Württemberg, das ist jetzt Amirs neue Heimat. Für ihn und seine Familie steht fest, dass die Flucht nach Europa eine Einbahnstraße war. "Wir können nicht zurück“, sagt der Junge, der sonst immer lacht, ganz ernst. Ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das auch so sieht, weiß die Familie noch nicht. Bisher hat sie eine Aufenthaltsgestattung, bis über ihren Antrag entschieden wird.
Der Alltag der Familie besteht aus Warten und Deutsch lernen. Amir hat den Vorbereitungskurs in Bestzeit bestanden. "Ich lerne schnell Deutsch, das sagt jeder. Ich bin wie Turbo“, sagt er stolz. Er geht inzwischen in die neunte Klasse einer Hauptschule. "Ganz normal“, sagt er, mit deutschen Kindern und deutschen Lehrern. Er lernt viel – nur in den Sommerferien ist wenig zu tun. Er schlug die Zeit zunächst im Tübinger Freibad tot und beim Fußball, bis ein Freund ihm beim Kicken vorschlug, mit auf eine Jugendfreizeit zu fahren. "Wie? So richtiger Urlaub?“, fragte Amir. "Ja, richtiger Urlaub“, antwortete der Freund.
Der Freund ist Yasin Adigüzel, und er spielt nicht nur Fußball. Adigüzel ist der Landesreferent für Vielfaltskultur beim EJW, dem Evangelischen Jugendwerk in Württemberg. Seit einem Jahr nimmt er bei der evangelischen Jugendarbeit verstärkt Kinder mit Migrationshintergrund in den Blick. Neben dem Tübinger Fußballprojekt, das er angestoßen hat, plante er eine Ferienfahrt für Flüchtlinge. Er wollte Jugendlichen, die Monate und Jahre auf der Flucht und in Asylbewerberheimen verbracht haben, ein bisschen Normalität zurückgeben.
Eine Woche Zeltplatz-Urlaub auf der Alb im "Freestyle Camp 2015“, weit weg von Gemeinschaftsunterkünften und diesem Asylbescheid, der einfach nicht kommen will, - das klingt für einige der Kinder wohl wie ein Ausflug nach Disneyland. In Kooperation mit der Seestraßengemeinde aus Ludwigsburg organisierte er das Ferienlager. Um 27 Teilnehmer aus Eritrea, dem Kosovo, Iran, Irak, Syrien, Ghana und auch ein paar deutsche Kinder kümmern sich zwölf Betreuer: Studenten, Lehrer, Sozialarbeiter. Weil nicht alle Kinder Deutsch können, wird viel gedolmetscht. Auf dem Fußballplatz, zwischen den fliegenden Frisbee-Scheiben, werden Regeln ins Türkische, Arabische und Persische übersetzt. Man hört Witze auf Englisch und Albanisch. Und wenn die Worte doch einmal fehlen, drücken sich Amir und seine Freunde gegenseitig Frisbees in die Hand und zeigen auf das nächste Ziel. Beim Werfen lassen sie sich so lange gegenseitig den Vortritt, bis alle lachen. "Manche denken ja: 'Das sind doch Flüchtlinge. Die haben doch keine Manieren, das sind doch Wilde‘“, sagt Adigüzel, während er das Spiel beobachtet. "Aber im Gegenteil! Sie sind unfassbar höflich, auch untereinander und kulturübergreifend.“
Während sich eine Gruppe in der brütenden Mittagshitze auf dem Rasen verausgabt und fliegenden Scheiben hinterherrennt, sitzen andere Kinder im Kreis und basteln mit Holz oder Speckstein. Ein paar Jungs lernen die ersten Akkorde auf einer Gitarre zu greifen. Abends, vor der Nachtruhe, kommen alle im Plenum zusammen. Dann werden Lieder gesungen und auch Fragen des Glaubens besprochen. "Gestern habe ich gefragt: Wer von euch hat schon mal ein Wunder erlebt?“, berichtet Adigüzel. "Das ist so krass, was die dann erzählen. Von ihrer Flucht in Booten und von Bomben, die ihre Häuser zerstört haben. Aber hier ist ein Ort, wo man auch in trauter Runde über diese Themen sprechen kann.“ Die meisten der Teilnehmer sind Muslime, ihre Betreuer Christen – die Idee des Camps ist auch, voneinander zu lernen. Adigüzel geht es vor allem darum, dass alle im Camp sich wertgeschätzt fühlen. "Das ist ein Markenzeichen christlicher Veranstaltungen. Und ich habe das Gefühl, das kommt bei den Teilnehmern auch so an.“
Eine Ferienfahrt mit Vollverpflegung, Unterkunft und Freizeitangebot ist nicht billig. Die 5.000 bis 6.000 Euro, die das einwöchige Camp insgesamt kostet, hat das EJW aus öffentlichen Landesgeldern zusammengekratzt und bei einem Spendenlauf in Stuttgart erwirtschaftet. Die wenigen deutschen Kinder zahlen einen kleinen Teilnehmerbeitrag, für die Migranten gibt es – noch – keine Gebühr. "Nächstes Jahr machen wir das nicht völlig kostenlos“, sagt Adigüzel. Er will sichergehen, dass beim nächsten Mal alle, die sich anmelden, auch kommen.
Amir ist inzwischen beim nächsten Disc-Golf-Ziel angekommen. Durch die schmale Lücke in einem Zaun sollen die Frisbees um die Ecke bis zu einer Feuertonne am Waldrand geworfen werden. Was für die meisten Teilnehmer unmöglich aussieht, gelingt dem Iraner schon wieder auf Anhieb. Gleich beim ersten Wurf trifft er den fünf Meter entfernten und kaum 20 Zentimeter schmalen Spalt zwischen den Brettern. Die anderen klopfen ihm auf den Rücken und nicken beeindruckt. "Er hat einen ziemlich starken Wurf“, kommentiert Adigüzel. Er spielt selbst Disc-Golf in einem Tübinger Verein und weiß genau, worauf es bei dem noch jungen Sport ankommt: "Erst einmal müssen sie richtig werfen lernen.“ Dann zeigt er ihnen noch einmal, wie es geht: Rückhand, Vorhand, links oder rechts um die Hindernisse herum. Der 31-jährige ist für die Kinder Trainer, Kumpel, Dolmetscher und Betreuer in einem. Er sagt, er sei "die Mama für alles“. Die Kinder nennen ihn "Superman“.
"Das Intensivste, was ich je erlebt habe"
Das Schicksal von Flüchtlingen beschäftigt Adigüzel nicht erst, seit er beim EJW arbeitet. Schon vor anderthalb Jahren hat er in Gaziantep, nahe der türkisch-syrischen Grenze, eine kleine Schule gegründet. Die in einem fremden Land gestrandeten syrischen Flüchtlingskinder, die ihre Tage sonst nur spielend auf der Straße verbringen, können dort Lesen und Schreiben, Mathe und Türkisch lernen. "Es ist das Intensivste, was ich je erlebt habe“, erinnert Adigüzel sich an die Zeit dort.
Die Flüchtlingsarbeit lässt ihn seitdem nicht mehr los. Heute sind es die Migranten, die es bis nach Deutschland geschafft haben, die er zu integrieren versucht. Mit dem "Freestyle Camp 2015“ haben er und seine Kollegen er einen Nerv getroffen: Die Kinder sind dankbar, einmal aus dem Flüchtlingsalltag in ihren Unterkünften herauszukommen. Viele von ihnen haben seit Jahren keinen Urlaub erlebt. Lange, entbehrungsreiche Reisen kennen sie. Aber aus Spaß zu verreisen und einen Wochentrip in die Hügellandschaft der Schwäbischen Alb zu unternehmen, bei dem es um Spielen und Toben geht – das ist eine neue Welt. "Das wahre Geschenk“, meint Adigüzel aber, "machen nicht wir ihnen, sondern die Jugendlichen uns. Schau mal, hier laufen so schöne Seelen herum.“ Ein paar Tage Camp liegen noch vor ihnen. Doch er ist schon jetzt mehr als zufrieden mit dem Ergebnis. "Ich hatte mir vorher gedacht: Das wird gut“, sagt er. "Aber dass es so gut wird, hätte ich nicht geglaubt. Für mich steht schon fest, dass es nächstes Jahr weitergeht.“
Amir hat die Disc-Golfrunde am Ende nicht gewonnen. Irgendwer hat ihn beim Checkpoint 3 und 4 überholt. Aber das macht ihm nichts aus, er strahlt trotzdem übers ganze Gesicht. "Wir probieren, alle zusammen zu spielen. No fight, verstehst du?“, sagt er. Morgen will er noch einmal spielen, besser werden. Dann wird er noch größere Schritte und noch weitere Würfe ausprobieren, um sein Ziel zu erreichen. Auch in seinem neuen, deutschen Leben hat er sich viel vorgenommen: Er will Mediziningenieur werden und Geräte für Operationen und Krankenversorgung entwickeln. Dafür wird er den Status eines anerkannten Flüchtlings brauchen – und muss noch einiges schaffen in der Schule. Aber nicht heute. Nach den Ferien. Denn Ämter und Klassenzimmer sind auf der Schwäbischen Alb zum Glück gerade ganz weit weg.