Ende dieser Woche ist es soweit. Die "Sea-Watch 4" wird Kurs auf die Such- und Rettungszone 24 Seemeilen vor Libyen nehmen. Nach Berechnungen der Crew werden wir in etwa fünf Tagen dort ankommen. Die Anspannung steigt auch für mich. Denn ich war noch nie so lange auf einem Schiff, wie wir es sein werden, und schon gar nicht unter den Vorzeichen, Geflüchtete aus dem Mittelmeer zu retten.
Constanze Broelemann, Jahrgang 1978, leitet die Graubündner Redaktion der evangelisch-reformierten Zeitung in Chur. Die Zeitung "reformiert" ist die auflagenstärkste evangelische Zeitung in der Schweiz. Außerdem arbeitet sie in Teilzeit im Pfarramt in der Schweiz und macht schwerpunktmäßig Konfirmandenarbeit.
Die Schiffbrüchigen oder "Gäste", wie der Verein "Sea Watch" sie nennt, sind bei der ersten Sichtung zumeist in bloß 40-PS-starken Gummibooten anzutreffen, fallweise mit 120 Personen pro Boot. Ihr einziges Ziel von der libyschen Küste aus ist der Norden – Richtung Europa. Als Orientierung dient ihnen anfangs die Ölplattform "Bouri Field". Die ist 120 Kilometer nördlich von der libyschen Küste zu finden und die Größte im Mittelmeer.
Das Ziel der "Sea Watch" ist, diese Menschen aus der Seenot zu retten, in die sie sich mit den Gummibooten begeben. Dafür wurde das Schiff vorgestern betankt, die Nahrungsmittel geliefert und gestern die Trinkwasservorräte aufgefüllt. Auf See werden wir mit dem Wasser haushalten müssen. Zwar bereitet das Schiff Salzwasser zu Trinkwasser auf, aber nicht in rauen Mengen. Ebenso wird unsere Online-Kommunikation drastisch eingeschränkt sein. Nur noch über Satellit haben wir dann Internet-Zugang. Um Kapazitäten zu sparen, werden Bild- und Video-Nachrichten sowie Streaming-Dienste komplett unmöglich sein. Eine Notfall-Email ist vermerkt, an die sich unsere Angehörigen im Ernstfall richten können. Wie seetauglich ich und auch andere von der Crew sind, die erstmalig "on Bord" sind, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Jedenfalls ist genug Ingwer bevorratet. Der soll, einigen zumindest, helfen.
Ich habe mich langsam an mein schmales Klapp-Hochbett gewöhnt und auch daran, dass mein Bewegungsraum seit Tagen nur noch die "Sea-Watch 4" mit ihren drei Decks, einem Stück des Hafens von Burriana und einem kleinen Strandausschnitt besteht, an dem wir abends schwimmen können. Doch dieser Bewegungsraum wird auf See noch eingeschränkter sein. Ich habe mich auch daran gewöhnt, Säcke zu schleppen, in der Galley, der Schiffsküche, zu helfen und ständig zu fragen: "Do you need some help?". Denn auch wir Medienleute müssen mit anpacken. Ich bin gespannt und aufgeregt, was die nächsten Schritte sein werden, die mich immer tiefer in dieses Schiff, seine Mission und seine Crew tauchen lassen...
In den letzten Tagen habe ich so viel über Schiffe und deren Handhabung gelernt wie noch nie in meinem Leben. Ein Highlight war ganz bestimmt das RIB-Training. Dort haben die so genannten "RIB-Teams", eine feste Besatzung, die die Schnellboote im Rettungsfall fährt, für den Notfall im Hafen von Burriana Rettungseinsätze geübt. Als Journalist*innen haben wir die Möglichkeit bei diesen Einsätzen mitfahren zu dürfen. Denn im Ernstfall sind wir eingeplant, mitzuhelfen. Die Positionen auf den Schnellbooten sind ganz klar eingeteilt, Diskussionen darf es im Ernstfall nicht geben.
Ich sitze im Boot von Joan, er ist gebürtiger Mallorquiner und fährt das kleinere Schnellboot "Tango". Unsere Aufgabe ist es, verschiedene Rettungs-Manöver zu üben: "Person über Bord", "mehrere Menschen im Wasser" oder "Evakuierung eines Gummibootes". Ich habe Joans Anweisungen zu folgen. Sagt er "geh nach vorn in das Boot" muss ich es tun, sagt er "sichere Hannah" muss ich das auch tun. Ganz klar ist auch, wer die erste Kontaktaufnahme zu den Schiffbrüchigen hat. Ein so genannter "cultural mediator". Seine Fähigkeiten sind, dass er größere, hoch aufgeregte Menschengruppen besänftigen kann und mehrsprachig ist. Arabisch ist hier neben Französisch und Englisch von Vorteil.
In den Rettungssituationen auf dem RIB schießt schon im Training allen das Adrenalin in den Kopf. Niemand will einen Fehler machen. Wir üben erstmals in der Crew-Zusammensetzung, werden aber auf der Überfahrt mit den Trainings fortfahren. Nach dem zweistündigen Training in voller PPE (personal protection equipment), das ist die Schutzkleidung aus Overall, Boots, Helmen, Mundschutz und Handschuhen, bin ich zufrieden mit meiner Leistung, aber auch ausgepowert.
Die "Sea-Watch 4" segelt unter deutscher Flagge und ist seit der neuen Gesetzesvorlage des Bundesministeriums für Verkehr als Cargo- oder Frachtschiff registriert. Seitdem zahlt "Sea Watch" als Verein das Dreifache, um das Schiff zu unterhalten. Denn "alles muss zertifiziert werden", sagt mir Martin, einer der RIB-Driver. Eine ständige Crew, die vor allem auf der Brücke und dem Maschinenraum positioniert ist, wird durch Freiwillige ergänzt. Durch die langen "stand-off"-Zeiten, die die NGO-Schiffe in jüngster Zeit hatten, werden die Missionen immer länger. Was früher drei Wochen waren, sind heute wegen Quarantäne-Vorschriften und möglicher stand-offs bis zu zwei Monate. Seit 2017 hat sich die Zusammenarbeit der zivilen Seenotretter und den so genannten "sichern Häfen" wie den italienischen drastisch verändert. War es davor noch möglich, dass die NGO-Schiffe vor allem mit dem MRCC Rom, also der Seenotrettungsleitstelle für das Seegebiet in Italien Hand in Hand arbeiteten, hat sich der Wind heute komplett gedreht.
Ich höre zu, lerne und versuche die neue Situation in ihrer Komplexität wahrzunehmen. Darüber hinaus muss ich Vertrauen haben. Denn nicht ich bin es, die die Geschicke des Schiffs steuert, nicht einmal die technischen kann ich beeinflussen, dafür bin ich nicht ausgebildet. Von heute auf morgen befinde ich in einer komplett neuen Welt. Was wird sie mir noch alles zeigen...