Eine alte Bettlerin sitzt auf einer Verkehrsinsel und bittet in monotonem Singsang um Spenden. Passanten hasten vorbei, sie haben selber wenig oder nichts, kaum jemand bleibt stehen, um zu geben. Es ist spät am Abend, aber am zentralen Busbahnhof von Tel Aviv ist immer noch etwas Leben. Zur vereinbarten Zeit taucht Simon Sium Mengesha auf, ein Flüchtling aus Eritrea. Ein hagerer, großer Mann mit einem ernsten Blick. Nach einer kurzen Begrüßung geht er vor, an der Hauptverkehrsstraße entlang, dann in ein schäbiges Gebäude und dort die Kellertreppe hinunter. Am Ende liegt ein spärlich beleuchteter Raum. Dort sitzen an einem Tisch bereits vier Eritreer, darunter eine Frau. Spuren von Folter sind bereits auf den ersten Blick erkennbar: die Hände zu Krallen verkrümmt, fehlende Finger, Brandnarben auf den Armen. Sie wurden in den Gefängnissen ihrer Heimat gefoltert, oder von Menschenschmugglern auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel.
Simon fängt umstandslos an, über das Regime seiner ostafrikanischen Heimat zu reden. "Das sind Kriminelle, sie halten sich an kein Gesetz", sagt der 36-Jährige. "Sie haben nie eine Verfassung zugelassen, sie wollen alles diktieren. Die Bevölkerung von Eritrea hungert, es gibt keinen Strom und auch nicht ausreichend Wasser." Die anderen nicken. Der triste Kellerraum ist Sitz einer eritreischen Oppositionspartei im Exil. Weil Opposition im Land selbst unmöglich ist, kämpfen Simon und die anderen vom Ausland aus um Veränderung. Eines der Grundübel ist aus ihrer Sicht der lebenslange Militärdienst in Eritrea. Auf den Grundwehrdienst folgt nahtlos ein so genannter Nationaldienst, bei dem unter militärischem Kommando auch zivile Aufgaben erledigt werden. Simon hat das alles selbst erlebt, selbst erlitten. Von 1997 bis 2007 war er bei der Armee, wurde im Rahmen des Nationaldienstes zum Mathematiklehrer ausgebildet. Dann musste er in Kasernen unterrichten. "Ich hätte gerne noch weiter studiert, aber sie ließen mich nicht", sagt er mit spürbarem Bedauern. "Ich musste unterrichten, und zwar ohne jede Bezahlung."
Nur weg aus Eritrea. Egal wohin
An einem Abend vor inzwischen acht Jahren stellte er bei einer Versammlung der eritreischen Regierungspartei eine Frage: Warum Eritrea keine Verfassung habe, mehr als zehn Jahre nach der Unabhängigkeit von Äthiopien 1993? Noch während des Treffens wurde Simon verhaftet und in ein unterirdisches Gefängnis gebracht. Menschenrechtsorganisationen zufolge gibt es viele davon in Eritrea. Die Gefangenen leben dort monatelang ohne Licht, nur für den Toilettengang dürfen sie manchmal nach oben. Die meisten werden gefoltert, um Geständnisse zu erzwingen. Simon wurde regelmäßig mit einem Stock geschlagen, am Kinn blieb davon eine Narbe zurück. "Bis heute träume ich von der Zeit im Gefängnis. Die Bilder verfolgen mich." Viele seiner Freunde und Bekannten starben in der Haft, morgens erwachte er oft neben Leichen. "Die Toten wurden weggetragen, und das war’s."
Zu überprüfen sind Simons Behauptungen nicht, die eritreische Regierung lässt ausländische Beobachter ja nicht ins Land. Ein UN-Bericht, der Anfang Juni veröffentlicht wurde, hat aber viele ähnliche Erfahrungen dokumentiert, von weit verbreiteter Folter ist die Rede. Womöglich begehe das Regime unter Präsident Isayas Afewerki auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Simon sagt, ihm sei nach drei Jahren die Flucht aus dem Gefängnis über die Grenze in den Sudan gelungen. "Das war lebensgefährlich, die Soldaten hatten ja den Befehl, zu schießen. Aber mir war alles egal. Ich rannte einfach los, ich hatte ja nichts zu verlieren." Seine Zukunft in Eritrea war eine Zukunft im Gefängnis, in einer unterirdischen Zelle ohne Licht. Er erzählt das alles nüchtern und ohne zu zögern, aber mit einer Traurigkeit, die jedes Wort prägt.
Im Sudan gibt es kurz hinter der Grenze ein Flüchtlingslager, das Simon erreichte. Eines Nachts trieben ihn Bewaffnete aus seinem Zelt, schubsten ihn in ein Geländeauto und verschleppten ihn mit anderen Gefangenen auf die ägyptische Sinai-Halbinsel. Wie zehntausende andere Flüchtlinge, wurde er auch dort misshandelt. Die Schmuggler verlangten von seiner Familie 3.000 Dollar als Lösegeld. Das ist eine geradezu bescheidene Summe, wenn man weiß, was die Schmuggler mittlerweile fordern, manchmal sind es mehrere zehntausend Dollar.
Immerhin ein Bett und ein Dach über dem Kopf
Simon kam mit insgesamt 17 anderen Entführten auf dem Sinai an. "Von den 17 haben es nur 13 nach Israel geschafft, vier von uns wurden an der Grenze von ägyptischen Soldaten erschossen, darunter eine schwangere Frau." Auch diese Bilder verfolgen Simon immer noch bis in seine Träume.
Das alles ist jetzt über fünf Jahre her, aber in Israel fühlt er sich bis heute nicht zu Hause. Simon hat ständig Angst, dass die Regierung ihn abschiebt, fühlt sich regelrecht gejagt. Afrikanische Flüchtlinge sind in Israel nicht willkommen, die Regierung forciert ihre "freiwillige Ausreise". Simons Duldung ist sowieso inzwischen abgelaufen und wird nicht mehr verlängert. "Aber wo soll ich denn hingehen?", fragt er leise. "Wenn ich nach Eritrea zurückgehe, werden sie mich dort sofort ins Gefängnis stecken und vielleicht sogar töten. Ich habe große Angst."
Am nächsten Abend kommen Simon und einige seiner Freunde zum Levinsky-Park, er liegt wie das Parteibüro in der Nähe des zentralen Busbahnhofes. Gegenüber gibt es eine kleine Polizeistation, deshalb schlafen hier viele obdachlose Flüchtlinge aus Afrika. Sie fühlen sich in der Nähe der Polizisten vor möglichen Angriffen von Kriminellen und Rassisten etwas sicherer. Simon und die anderen gehen vor über die vertrockneten Rasenflächen. "Siehst du den da?", fragt Simon und zeigt auf einen Mann, der auf der Wiese schläft. "Der wurde auf dem Sinai gefoltert, seitdem ist er durcheinander, findet keine Ruhe. Er hat keine Familie, keine Arbeit, keine Wohnung. Deshalb schläft er hier, er hat nichts. Und kriegt keine Hilfe." Andere übernachten in den Röhren einer Kinderrutsche und in den Türmchen eines hölzernen Klettergerüsts. In den ersten Monaten nach seiner Ankunft in Tel Aviv habe er auch im Levinsky-Park gewohnt, erzählt Simon. Inzwischen hat er immerhin ein Bett und ein Dach über dem Kopf.
Seine Frau weint bei jedem Anruf
Wir gehen zu Simon und seinen Freunden nach Hause, sie leben ganz in der Nähe. Das Treppenhaus ist eng, ein Nachbar zwängt sich auf den Stufen vorbei. Ihre Wohnung im zweiten Stock ist klein, mit Betten vollgestellt. In der Teeküche hängt die schimmlig-feuchte Tapete von der Decke. Das Bad ist winzig, trotzdem ist es gleichzeitig der Durchgang zum Balkon. Dort steht eine Waschmaschine, damit ist die kleine Fläche voll. Simon wohnt hier mit drei weiteren Eritreern zusammen. Die anderen drei jobben und teilen sich die Miete von umgerechnet 800 Euro im Monat. Simon selbst arbeitet nicht: "Ich habe Angst zu arbeiten. Ich könnte als Illegaler erwischt und abgeschoben werden." Die anderen sind offenbar härter im Nehmen. Sie haben kein Problem damit, Wohnung und Essen mit Simon zu teilen. Dank ihrer Hilfe überlebt er, und er ist dankbar dafür.
Simon steht auf dem Balkon, guckt auf die nächtlichen Gassen im Viertel. "Ich bin 36 Jahre alt und mit meinem Leben schon am Ende", sagt er. "Ich kenne meine beiden Kinder kaum, und wenn ich meine Frau in Eritrea anrufe, weint sie jedes Mal. Sie will nicht noch einmal heiraten, sie will auf mich warten – aber bis wann?"