Beinahe hätte es einen Auffahr-Unfall gegeben. In dem Moment nämlich, als meine Freundin, die am Steuer saß, ärgerlich ausrief: "Dir kann es ja egal sein. Du glaubst ja wohl sowieso an nichts so richtig!" Sie ist Theologin, wir waren auf dem Weg zur Hauptversammlung des Reformierten Bundes, und die ganze Fahrt über diskutierten wir über ein Thema, das ich sehr spannend fand, sie dagegen eher absurd: Die Frage nämlich, ob das Alte Testament nicht aus dem Kanon der Heiligen Schrift herausgenommen werden solle, im Sinne eines modernen "christlichen Selbstbewusstseins", das in Wirklichkeit wenig anfangen kann mit dem archaischen Gott Abrahams und des kleinen Volkes der Israeliten.
Der renommierte Berliner Theologieprofessor Notger Slenczka ist es, der aktuell der Theologenwelt diese Auseinandersetzung aufzwingt, auch den über 150 Vertretern der Hauptversammlung. Als wie abwegig gerade die Reformierten eine Abwertung des Alten Testamentes ansehen müssen, war mir als theologischer Laiin erst nicht bewusst. Sie, deren Gesangsbuch unzählige Psalmen-Lieder enthält und die mehr als die lutherischen Kirchen Texte aus dem Alten Testament zur Grundlage für Predigten wählen, zu fragen: "Warum eigentlich nicht weg mit dem Alten Testament?", wäre etwa so, als wenn man unter Pazifisten laut darüber nachdenken würde, ob die Todesstrafe nicht doch Einiges für sich habe.
Aber warum denn eigentlich nicht das Alte Testament dem Neuen nachordnen? Der Schöpfergott des Alten Testaments ist gewiss eine eindrückliche Persönlichkeit, wie er Himmel und Erde, Pflanzen, Tiere, und schließlich den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, wie er für sich fordert, der einzige Gott zu sein, dessen Gesetze man einhalten muss, und immerhin verspricht, niemals mehr eine schöpfungsvernichtende Sintflut zu schicken. Er begleitet sein auserwähltes Volk in ihre Kriege und ermuntert sie, dabei gehörig über Leichen zu gehen; er hat seine bevorzugten Lieblinge; er ist mal großmütig, mal zornig, mal liebend, mal eifersüchtig – alles in allem ein Gott mit recht ungestüm menschlichem Charakter.
Ist das der Gott des 21. Jahrhunderts? Es war sicher gut, dass wir bereits auf dem Weg zur Hauptversammlung über diese Dinge sprachen. "Das ist doch alles schon längst geklärt!", so meine Freundin. "Schmerzhaft geklärt im Übrigen. Zuletzt waren es die 'Deutschen Christen', die im Zuge nationalsozialistischer Ideologie solche Klischees aufgriffen, um die Hebräische Bibel aus dem Christentum zu verbannen und allen 'jüdischen Einfluss' auszumerzen."
Der liebende und der kämpfende Gott
Ich würde vergessen, sagte sie, dass das Alte Testament die unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis des Neuen Testaments sei, für den Neuen Bund, von dem schon der Prophet Jeremia spricht, und für die eigentliche Bedeutung dessen, dass Christus in die Welt kam als Erlöser und als Versöhner von Mensch und Gott. "Christus selbst sah sich in engster Beziehung zum Gott der Überlieferung, den er mit 'Vater' anredet und an den er mit allen anderen Juden glaubte. Er bezieht sich ständig auf die Hebräische Bibel, und weißt du, er tut das nicht stur wie ein Dogmatiker, sondern interpretierend, umdeutend, auslegend – so, wie wir es ja auch tun."
Wäre es denn aber nicht trotzdem angemessener, die heutige Christenheit ließe die eher schwierigen Texte außen vor, von denen Notger Slenczka sagt, sie seien Dokument "einer ethnisch gebundenen Stammesreligion", also einer "Religionsgemeinschaft, die mit der Kirche nicht identisch ist". Hätte es nicht was für sich, den liebenden Gott des Neuen Testaments in den Mittelpunkt eines Glaubens zu stellen, der sich damit auch von kämpferisch-kriegerischer Religion absetzt? In der Bergpredigt heißt es: "Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin". Das sind doch friedliebende Christus-Worte, mit denen man sich gerne identifizieren kann.
"Kann man das wirklich so umstandslos?" fragt die Freundin. "Zunächst: Wer wäre Christus ohne Bezug auf den Gott des Bundes, der mit seinem Volk durch die Wüste gezogen ist und eben auch für sein Volk gekämpft hat. Irgendein herumwandernder Prediger, dessen Worte wahrscheinlich gar nicht überliefert worden wären." Und dann: Diesen liebenden Gott, den gäbe es nicht ohne den Gott, der für sein Volk kämpft. Und er wäre auch nicht überzeugend. "Man kann nicht immer nur die andere Wange hinhalten. Manchmal muss man auch als Christ kämpfen und Partei ergreifen." Und schließlich: "Für alles, was in der Bergpredigt steht, gibt es Bezugspunkte zur jüdischen Tradition, gerade auch für das 'Liebe deinen Nächsten wie dich selbst', das bereits im 3. Buch Mose steht. Da sind nicht zwei verschiedene Götter, sondern es dreht sich alles um eine sich entwickelnde Beziehung zu dem einen Gott, der sich in unterschiedlichen Zeugnissen offenbart."
Aber, aber..., sage ich, und da kommt dieser Punkt, an dem sie fast wütend auf mich wird. "Was glaubst du denn, was Glaube bedeutet?" fragt sie. "Dass jeder sich individuell etwas zurechtzimmert? Dass der eine hier, der andere da streicht, was nicht in sein Glaubensbild passt, ohne eine Basis für eine Gemeinschaft der Gläubigen? Ist das für dich das 'moderne christliche Selbstbewusstsein'?"
"Man reiht sich ein in eine tradierte Glaubensgemeinschaft"
Hm. Ich wage noch den Einwand, dass ich das "Fremdeln" mit dem Alten Testament, von dem Slenczka spricht, dass ich das durchaus nachvollziehen kann. Könnte es nicht zumindest legitim sein zu überlegen, wie man dieses "Fremdeln" überwindet? "Das ist kein echtes Problem", sagt die Freundin. "Niemand von uns behauptet, jedes Wort in der Bibel sei wahr im Sinn von Tatsachenbehauptungen. Im Gegenteil: Schon die Schöpfungsgeschichte besteht aus zwei unterschiedlichen Versionen und ebenso gibt es nicht nur eines, sondern vier Evangelien. Die Bibel selbst enthält die Aufforderung, immer neu sowas wie ein christliches Selbstbewusstsein zu reflektieren. Und eins sage ich dir mal: den zweifelhaften Ausdruck 'Fremdeln' würde man sich in einem anderen Kontext sehr gut überlegen."
Die ganze Heilige Schrift sei das, was den Menschen gegeben sei. "Was wäre die Alternative? So wie Marcion im zweiten Jahrhundert alles zu streichen bis auf ein paar Paulus-Briefe und ein 'gereinigtes' Evangelium? Bis man die absolute Wahrheit gefunden hätte, unumstößlich in Stein gemeißelt? Und alle anderen liegen falsch? Einen interreligiösen Dialog könnte man damit vergessen."
Der Ausschluss des Alten Testaments aus dem Kanon der Offenbarung wäre ein Schritt in völlig falsche Richtung. "Die Wahrheit im Glauben ist nichts, was einfach so gegeben wäre", so meine Freundin weiter. "Man reiht sich ein in eine tradierte Glaubensgemeinschaft, mit all den unvermeidlichen Widersprüchen. Gott lässt sich nicht reduzieren auf ein 'Ich habe euch alle lieb'. Das würde uns auch nichts nützen, denn so ist die Welt nicht, so ist das Leben nicht."
Mit diesen Worten haben wir die Tagungsstätte des reformierten Bundes erreicht. Am Ende beschließt die Hauptversammlung eine Erklärung, in der sie sich bedingungslos hinter das Alte Testament stellt. Die Erklärung wird einmütig angenommen. Auch mit meiner Stimme.