Slenczka stimmt dem Befund des renommierten Kirchenhistorikers Adolf Harnack (1851-1930) zu, wonach das Alte Testament theologisch dem Status der sogenannten Apokryphen zuzurechnen sei. Also jenen jüdischen Texten, die nicht dem biblischen Kanon und damit den heiligen Schriften zugeordnet werden. Denn das Alte Testament sei kein Zeugnis des Gottesverhältnisses, sondern Dokument "einer ethnisch gebundenen Stammesreligion" mit partikularem Anspruch, argumentiert Slenczka, der an der Humboldt-Universität Berlin lehrt.
Über Fachkreise hinaus Aufmerksamkeit fand der wissenschaftliche Beitrag erst mit einer Stellungnahme des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Deren evangelischer Präsident, der hessen-nassauische Pfarrer Friedhelm Pieper, kritisiert darin "einen handfesten Skandal im gegenwärtigen deutschen Protestantismus". Denn Slenczka verlasse mit seinen Thesen einen "Grundkonsens christlicher Theologie", seine Abhandlung stelle eine "Neuauflage des protestantischen Antijudaismus" dar.
Auch Martin Stöhr, einer der Wegbereiter des christlich-jüdischen Gesprächs, fährt schweres Geschütz auf. Der angesehene Theologe wirft Slenczka "Verrat an der Bibel" vor. Ein Christentum ohne Altes Testament sei ein "Baum ohne Wurzel", schreibt Stöhr in einem Beitrag für die epd-dokumentation 18/2015, der Martin Luthers Haltung zu den Juden als Thema hat.
EKD findet Slenczkas Thesen nicht diskussionsrelevant
Öffentlicher Widerspruch kommt auch von Professorenkollegen. Slenczkas Äußerungen zur Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Theologie, zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament sowie zur Kanonizität des Alten Testaments seien "historisch nicht zutreffend und theologisch inakzeptabel", heißt es in einer Stellungnahme von fünf der 13 Theologieprofessoren der Humboldt-Universität Berlin. Es stehe außer Zweifel, dass die Hebräische Bibel ebenso wie das Neue Testament "Quelle und Norm" der evangelischen Theologie sei und bleibe. Unterzeichner der Erklärung sind der Kirchenhistoriker Christoph Markschies, der Vorsitzender der Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist, sowie die Humboldt-Professoren Cilliers Breytenbach, Wilhelm Gräb, Rolf Schieder und Jens Schröter.
Die Kollegen-Kritik an seinen Thesen habe er mit "fassungsloser Heiterkeit" wahrgenommen, entgegnet Slenczka. Mit "papalem Gestus altkirchlicher Ketzerjäger" und völlig unbegründeten Behauptungen entzögen sich die Kritiker einer offenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung, beklagt der Theologieprofessor.
Die Evangelische Kirche habe sich in vielen Veröffentlichungen immer wieder deutlich zur geistlichen und systematisch-theologischen Bedeutung des Alten Testaments geäußert, eine neuerliche Unterstreichung dieser Haltung käme dem Zugeständnis einer Verunsicherung gleich, die in keiner Weise angezeigt sei, sagte Vizepräsident Thies Gundlach vom EKD-Kirchenamt dem epd. Die Position Slenczkas liege weit außerhalb des Spektrums dessen, was in der EKD gegenwärtig für diskussionsrelevant gehalten werde, argumentiert Gundlach.
Dennoch könnte der Theologen-Disput kirchenpolitisch relevant werden. Der Reformierte Bund, einer der konfessionellen Zusammenschlüsse im deutschen Protestantismus, will sich in dieser Woche mit der "Abwertung" des Alten Testaments befassen. "Wir fordern uns selbst und andere Kirchen deshalb auf, das Alte Testament im Angesicht Israels noch umfassender als bisher in Lehre und Predigt einzubeziehen ...; die intensive Beschäftigung mit den Überlieferungen des Alten Testamentes dient dem ureigenen evangelischen Interesse, das Evangelium theologisch verantwortlich zu predigen und das Zeugnis von Jesus Christus angemessen zum Ausdruck zu bringen", heißt es in einem Papier zur Hauptversammlung der Reformierten, die ab Donnerstag im westfälischen Schwerte tagt.