Die Frage der Woche, Folge 99: Wie viele waren in Wittenberg?
...und ist das überhaupt wichtig, wie viele Menschen beim Reformations-Festwochenende in Wittenberg waren?

Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,

heute wird's binnenkirchlich. Die Frage ist: Ist es wichtig, wie viele Menschen beim Festwochenende zum Reformationsjubiläum 2017 in Wittenberg waren? Dort war nämlich am vergangenen Wochenende der Abschlussgottesdienst des Kirchentags, der ansonsten in Berlin gefeiert wurde. Und in sechs zusätzlichen "Kirchentagen auf dem Weg" in ostdeutschen Reformationsstädten. Es waren 120.000 Leute da.

Sagt der Veranstalter.

Hannes Leitlein hat für Christ & Welt nachgeforscht, unter anderem mit den Luftbildern vom DLR und der Unterstützung der Forschungsgruppe "Durchgezählt" aus Leipzig, die sonst Pegida-Zahlen überprüfen. Seine Nachforschungen blieben allerdings auch bei einem offenen Schluss: Es müssten demnach in der Stunde vor Beginn des Gottesdienstes noch 70.000 Menschen zusätzlich auf das Festgelände gekommen sein, um auf diese Zahl zu kommen. Alle Besucher vor Ort, mit denen ich selbst gesprochen habe, sagen: Da kamen auch noch sehr viele, knapp zum Beginn des Gottesdienstes oder danach, weil die Wege so weit waren.

Hannes Leitlein zitiert Hartwig Bodmann, Geschäftsführer des Vereins, es gehe bei einem Kirchentag ohnehin nicht um Zahlen, sondern um Wirkung und Symbole.

Das stimmt. Deswegen ist der Hickhack um die Besucherzahlen beim Festwochenende unwürdig. Geplant war die riesigste Reformationsfeier aller Zeiten, ein fröhliches, gottesdienstliches Massenevent. Wer weit im Vorfeld des Kirchentags mit den Zuständigen gesprochen hatte, bekam das Gefühl: Da ist das Mega-Highlight schlechthin geplant, ein Zeichen, dass die Kirche immer noch Massen bewegt, eine Viertelmillion vielleicht. Ein fester Glaube, dass Wittenberg als Epizentrum der Reformation eine magnetische, beinahe magische Anziehungskraft auf jeden Protestanten weltweit ausüben würde, so dass diese eine große Feier aus allen Nähten platzt, wie der Petersplatz in Rom beim Ostergottesdienst des Papstes.

Das war aber nicht so (bei mir übrigens auch nicht, ich war vor dem Fernseher in Berlin). Und wenn es um Wirkung und Symbole geht, dann sind die enttäuschten Erwartungen ein Symbol für die Zukunft der Kirche, dass wir ernst nehmen müssen.

Denn die evangelische Kirche in Deutschland funktioniert nicht mehr überall gleich. Selbst ein zentraler Sammelpunkt wie der Kirchentags-Abschlussgottesdienst ist nur noch eine Nische im Protestantismus. Die alte Volkskirche, deren beständiger Ritus eine ganze Gesellschaft strukturieren konnte, verliert ihre Form. Der all-sonntägliche Gemeindegottesdienst ist auch nur noch für eine spezielle Gruppe in der Kirche gedacht. Dazu kommt: Kirche in Mecklenburg-Vorpommern funktioniert anders als in Bayern. Aber es sind mehr als nur geografische Unterschiede, die diese Differenzierung ausmachen.

Das hat mir der Abschlussgottesdienst vom Kirchentag sehr gut demonstriert. Das war kein Gottesdienst für mich. Es ist dafür wirklich nicht wichtig, wie viele Leute in Wittenberg waren, denn dieses Gefühl hatte ich bisher bei jedem DEKT-Abschlussgottesdienst, bei dem ich war oder den ich im Fernsehen gesehen habe. Diese Gottesdienste langweilen mich. Und dann fällt der Synchronsprecher, der die Predigt von Erzbischof Thabo Makgoba für die ARD übersetzte, auch selbst noch in diesen getragenen Singsang, der als "kirchlich" gilt! (Dabei war die Predigt eigentlich gut, ich habe sie gerne gelesen.)

Ich will keine weichgespülten Gottesdienste, die irgendwie jedem was geben sollen. Ich will keine Wohlfühlsprache. Ich will keine getragenen Redeweisen, die irgendwie präsidial oder pastoral rüberkommen sollen. Ich will das, was schwierig ist: Eine harte, tiefe Predigt umrahmt von Bachkantaten. Eine elegische Andacht ohne Worte. Einen Bibliolog. Einen Schlagergottesdienst mit Karaoke-Einschlag. Eine volle lutherische Liturgie. Egal, Hauptsache einen roten Faden von Anfang bis Ende (inhaltlich, nicht liturgisch). Einen Gottesdienst, an dem die Besucher Spaß haben dürfen und nicht nur da sitzen und zuhören und denken: och ja, ganz nett. Und das bitte nicht als Spezialgottesdienst, als Ausnahme, sondern als ein Teil der Regel.

In der Summe der Kirche gibt es das alles, das finde ich auch gut. Und übrigens auch beim Kirchentag gab es viel davon zu erleben, entweder direkt oder durch die Berichte der Macherinnen und Macher auf den entsprechenden Podien und Veranstaltungen. Bei einem zentralen Gottesdienst wie dem in Wittenberg zeigt sich dann aber: Je polierter so ein Gottesdienst, umso langweiliger ist er. Wenn ich Gottesdienste erlebe, will ich kein Déjà-vu erleben und keine spirituelle Pflichterfüllung, sondern eine Herausforderung an meinen Geist. Deswegen gehe ich so selten in Gemeindegottesdienste - weil das richtig schwierig ist, jeden Sonntag so etwas zu schaffen. Das können nur die besten Pfarrer*innen, und selbst die nicht jede Woche. Vielleicht ein Grund, das Modell von Grund auf zu überdenken.

Vor uns liegt Pfingsten. Das große WTF?-Erlebnis für die Jünger. Ein Fest, das mit Bildern von Brausen und Feuer beschrieben wird. Ein Brausen, dass es an vielen Stellen der evangelischen Kirche gibt, gottseidank. Aber eines, das über die halb gefüllte Festwiese in Wittenberg eher als laues Lüftchen wehte. Daran hätten auch 100.000 mehr nichts geändert.

Ich wünsche euch und Ihnen ein brausendes Pfingstfest!


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