Nach "Lissabon": Sprachvielfalt könnte EU lähmen
Während die Abgeordneten in den nationalen Parlamenten Beifall klatschen, sind die Übersetzer in Brüssel besorgt: Der ohnehin schon große Druck auf sie dürfte sich noch verstärken, nachdem sich Europa mit dem Lissabon-Vertrag eine neue Rechtsgrundlage gegeben hat.
12.02.2010
Von Michael Kieffer

Mit Inkrafttreten des Reformvertrags im vergangenen Dezember müssen die nationalen Volksvertretungen an EU-Gesetzen stärker denn je beteiligt werden. Auf die Parlamente in den 27 EU-Ländern kommt damit nicht nur mehr Macht zu, sondern auch eine wachsende Flut von Dokumenten. Und die Abgeordneten pochen darauf, alle Papiere in der eigenen Sprache vorgelegt zu bekommen.

In der Europäischen Union gibt es 23 Amtssprachen - darunter auch nicht oft gesprochene wie Maltesisch oder Estnisch. Rund 4.500 Beamte arbeiten daran, Diskussionspapiere, Tätigkeitsberichte, Redetexte oder Pressemitteilungen für die verschiedenen Institutionen zu übersetzen. Im Jahr 2009 bearbeiteten allein die 1.750 Übersetzer der EU-Kommission 1,6 Millionen Seiten. Mit 300 Millionen Euro jährlich schlagen schriftliche Übersetzungen für die "Geschäftsführung" der EU zu Buche.

Strategie für effizientere Übersetzungen

Doch solche Summen reichen anscheinend nicht. "Bei wichtigen Entscheidungen muss man Monate im Voraus denken", klagen Brüsseler Diplomaten. Von "dramatischen Zeitverzögerungen" sprechen sie - und davon, dass durch den Lissabon-Vertrag alles noch schlimmer werde. Für die Übersetzung eines zweiseitigen Dokuments brauche es eine Woche; bei 100 Seiten aufwärts könnten mehr als acht Wochen zusammenkommen.

Ein konkretes Beispiel ist das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Südkorea. Als "historisch" wurde es bei der Unterzeichnung im Oktober 2009 gefeiert; es sei für die EU das wichtigste Freihandelsabkommen aller Zeiten. Trotzdem kann das Europaparlament erst in der zweiten Jahreshälfte 2010 darüber beraten. So lange dauere es, bis das 600-Seiten-Abkommen mit seinen 400 Seiten Anhang aus dem Englischen übersetzt sei, sagt ein EU-Diplomat.

Vor knapp sechs Jahren zog die EU-Kommission die Notbremse und beschloss eine Strategie für mehr Effizienz bei Übersetzungen. Seitdem wird oft nur noch das Nötigste in alle Amtssprachen übertragen. "Man hat unterschieden zwischen Rechtsakten, die auch nur noch ein bestimmtes Volumen haben durften, und Anhängen", sagt Übersetzer Andreas Husch, der seit acht Jahren für die Kommission arbeitet.

Durch "Lissabon" droht weiterer Druck

Auf den Schreibtischen der Bundestagsabgeordneten in Berlin landen daher zunehmend Dokumente in englischer Sprache - zum Ärger vieler Parlamentarier. "Die vollständige Übersetzung aller politisch relevanten EU-Dokumente in die deutsche Sprache ist die Grundvoraussetzung für eine effektive Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte (...)", hieß es bereits im Jahr 2007 in einer fraktionsübergreifenden Stellungnahme des Bundestags. Die Abgeordneten weisen auch darauf hin, dass Deutsch die verbreitetste Muttersprache in der EU ist. Dennoch sei außer "vollmundigen Versprechungen" vom damaligen EU-Sprachenkommissar Leonard Orban bis heute nichts passiert, kritisiert man im Europa-Ausschuss.

Übersetzer Husch kennt die Beschwerden. "Das lag unter anderem daran, dass die Sprachendienste nach den Erweiterungen nicht so viele Stellen bekommen haben, wie sie hätten bekommen müssen", sagt er mit Blick auf die beiden EU-Erweiterungen in den Jahren 2004 und 2007. Mit den zwölf ost- und südeuropäischen Ländern kamen elf neue Amtssprachen hinzu.

"Es ist mehr geworden", sagt Husch, gefragt nach seiner persönlichen Arbeitsbelastung. Dass durch "Lissabon" weiterer Druck droht, hält er für realistisch. Gesetzgebungsvorhaben seien von der EU-Kommission zwar schon früher an die nationalen Parlamente weitergeleitet worden, doch jetzt gebe es darauf ein formales Recht. "Es ist schon so, dass da mehr auf uns zukommen kann."

dpa