Die Jahreslosung ist streng genommen keine Losung, denn sie wird nicht ausgelost, sondern gewählt, und zwar von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB). Das Verfahren ist relativ aufwändig: Die Mitglieder der ÖAB reichen je zwei Vorschläge ein. Dann diskutiert die Mitgliederversammlung die Spruchvorschläge in vier Gruppen durch. Jede Gruppe schaut sich die Verse auch in ihrem Kontext und in der hebräischen oder griechischen Version an und entscheidet sich für zwei Verse. Über diese maximal acht Vorschläge diskutiert das Plenum nochmals, bevor gebetet und dann abgestimmt wird. Bekommt ein Vers die absolute Mehrheit, wird er Jahreslosung.
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Bei der Auswahl der Losung für 2014 gab es eine Premiere in der Geschichte der ÖAB: Sie nahm ihr Votum zurück, traf sich ein zweites Mal, stimmte erneut über den Vers ab und ließ dabei zwei Wörter weg. Das kam so: Psalm 73,28a lautet nach der Einheitsübersetzung: "Ich aber – Gott nahe zu sein ist mein Glück." Gegen dieses "Ich aber" gab es Proteste von einigen Verlagen, die die Jahreslosung auf Kalender, Tassen und Kugelschreiber drucken wollte. "Es war ihnen zu sperrig", erklärt der Vorsitzende der ÖAB, Wolfgang Baur vom katholischen Bibelwerk. Ohne das trotzige "Ich aber" ist der Vers glatter, eingängiger.
"Wir haben uns da überrumpeln lassen"
Doch gerade das "Ich aber" hat eine zentrale Bedeutung in Psalm 73: Der Beter beobachtet, dass es in der Welt ungerecht zugeht und gerät in eine Glaubenskrise. Aber dann, als Gott sich ihm auf geheimnisvolle Weise offenbart, ändert sich seine Sicht der Dinge: Gegen alle Vernunft und Erfahrung entscheidet sich der Psalmbeter, Gott treu zu bleiben. Vers 28 ist also ein hart errungenes persönliches Bekenntnis. "Die Position des Gottgläubigen wird mit dem 'Ich-aber' abgesetzt. Er findet seine Identität", erläutert Wolfgang Baur. Im Nachhinein ärgert er sich über die nochmalige Abstimmung, denn jetzt wird nur ein Bruchstück von Vers 28 auf Postkarten und Kalendern abgedruckt. "Ich möchte nicht, dass sich das nochmal wiederholt. Wir wägen immer sehr gründlich ab. Wir haben uns da überrumpeln lassen", sagt der ÖAB-Vorsitzende.
Diskussionen gab es auch darüber, ob man die Einheitsübersetzung oder den bekannteren Luthertext von 1984 nimmt. Diese beiden Bibelübersetzungen sind von der evangelischen und katholischen Kirche anerkannt und werden für die Jahreslosungen verwendet. Gegenüber der Einheitsübersetzung ("Gott nahe zu sein ist mein Glück") formulierte Luther etwas freier: "Das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte." Wolfgang Baur fand es schön, noch einmal die Einheitsübersetzung zu wählen, weil in den vergangenen Jahren oft Luther zum Zuge gekommen war. Außerdem – ein wichtiges Argument für den katholischen Theologen: "Wir orientieren uns auch an den Quelltexten, da ist die Einheitsübersetzung näher dran."
Wörtlich übersetzen - das geht nicht
An diesem Vers wird deutlich, wie schwierig es ist, hebräische oder griechische Quelltexte der Bibel überhaupt zu übersetzen – und zwar so, dass sie in unserer heutigen Lebenswelt einen Sinn ergeben, der zum damals Gemeinten passt. Übersetzt man wörtlich, kommen dabei sperrige und kaum verständliche Formulierungen heraus. Der Münsteraner Alttestamentler Erich Zenger hat für Psalm 73,28a – so wörtlich wie möglich! – vorgeschlagen: "Ich aber: Gottes-Nahen ist gut für mich" (in: Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, 2000). Doch so würde sich im Deutschen niemand ausdrücken. Übersetzer müssen Texte immer in andere Sprachwelten übertragen und damit auch interpretieren.
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Manchmal müssen sie sogar raten und intuitiv entscheiden. In unserer Jahreslosung ist der Begriff "Nähe" oder "nahe sein" der Knackpunkt. Wörtlich müsste es "das Nahen" heißen, denn im Hebräischen steht ein substantiviertes Verb. Die entscheidende Frage ist: Wer naht sich wem? Naht sich Gott dem Menschen oder naht sich der Mensch Gott? Die hebräische Formulierung lässt beide Möglichkeiten zu. Zenger entschied sich dafür, dass Gott sich dem Menschen naht, genauso wie die Bibel in gerechter Sprache ("Gottes Nähe ist gut für mich."), die Neue Genfer Übersetzung ("Gottes Nähe"), und die Schlachter Bibel ("die Nähe Gottes"). Für die andere Möglichkeit – der Mensch nähert sich Gott - entscheiden sich Luther ("…dass ich mich zu Gott halte"), Martin Buber und Franz Rosenzweig ("Gott nahn") und die Reviderte Elberfelder ("Gott zu nahen").
Um zu entscheiden, was gemeint ist, muss man den ganzen Psalm lesen. In der Glaubenskrise des Beters wird Vers 17 zum Wendepunkt: Da geht der Beter in das "Heiligtum Gottes". Die Bibelwissenschaftler streiten bis heute darüber, was damit gemeint ist. Geht der Psalmbeter in den Tempel, um an einem Gottesdienst teilzunehmen? Das spräche für eine Übersetzung, in der der Beter sich Gott nähert. Oder ist "Heiligtum Gottes" im übertragenen Sinne zu verstehen: Erlebt der Beter eine innere Offenbarung Gottes? Wird er auf mystische Weise in dessen Geheimnisse eingeweiht? Dann wäre es korrekter, mit dem "Nahen Gottes" zu übersetzen. Vielleicht ist es auch beides: Der Mensch versucht, sich Gott zu nähern, und daraufhin gibt Gott sich dem Menschen zu erkennen. Die Einheitsübersetzung findet einen schönen Kompromiss: "Gott nahe zu sein" könnte das Ergebnis eines gegenseitigen Annäherns sein.
Ein Bekenntnis mit Spielraum
Diese Nähe Gottes ist nun also "gut", so die wörtlichste Übersetzung am Versende. Doch auch für dieses Wörtchen gibt es zahlreiche Übersetzungsmöglichkeiten: gut, wohl, schön, lieblich, heiter, froh, schön, fröhlich, angenehm, erfreulich. Im Hebräischen steht zwar ein Adjektiv, doch manche entscheiden sich im Deutschen für ein Substantiv: "Glück" (Neue Zürcher und Einheitsübersetzung), "das Gute" (Buber/Rosenzweig) oder "Freude" (Luther). Weiterhin wäre Heil, das Rechte, Güte, Schönheit, Herrlichkeit, Fröhlichkeit nicht falsch.
Die Jahreslosung für 2014 bietet also viel Raum für Interpretationen. Für den einen bedeutet der Vers: "Gott ist bei mir, das macht mich froh." Für die andere vielleicht: "Ich kann immer wieder auf Gott zugehen – was für ein Glück!" und für einen Dritten: "Gottes Nähe? Ich möchte erleben, dass sie mich heilt." Was bleibt, ist das persönliche Bekenntnis eines Zweiflers, der Gottes Nähe erlebt und dadurch seine Glaubenskrise überwindet. Das trotzige "Aber ich" am Versanfang sollten wir mitlesen, denn es nimmt die Aussage des gesamten Psalmes mit hinein in die Jahreslosung: Trotz aller Ungerechtigkeit, obwohl ich vieles nicht verstehe, auch wenn das gute Ende noch nicht spürbar ist – trotzdem sage ich: "Gott nahe zu sein ist gut für mich."