Frau Preitler, Sie arbeiten mit Angehörigen von 'Verschwundenen'. Wenn ein Mensch verschwindet, ist das für die, die zurückbleiben, immer schlimm. Wie gehen die Angehörigen damit um?
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Barbara Preitler: Wenn jemand verschleppt wird, steht für die Angehörigen erstmal die Angst um ihn im Vordergrund und die Frage: 'Was macht man jetzt mit ihm?' Natürlich wird auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass man ihn ermordet hat - aber es gibt auch noch so viele andere Möglichkeiten, was mit ihm passiert sein könnte. Nur: Sie sind alle nicht gut! Also ist zuerst das Wichtigste der Versuch, an Informationen zu kommen und die vermisste Person vielleicht zu retten. Es geht also erst einmal darum, aktiv zu werden. Es gibt noch nicht diese große Hilflosigkeit. Auf jeden Fall halten die Menschen aber noch an der Vorstellung fest, die vermisste Person könnte noch am Leben sein. Dadurch wird das Trauern erst einmal blockiert. Das kann allerdings auch ein Leben lang der Fall sein, wenn man sich zum Beispiel in Kriegswirren verloren hat und keine Aussicht auf Klarheit besteht.
Heißt das, die Hoffnung verhindert, dass die Angehörigen trauern?
Preitler: Ja, Hoffnung - natürlich auch berechtigte Hoffnung - verhindert das Trauern. Und da liegt sehr häufig das Problem in unserer therapeutischen Arbeit. Denn wir wissen ja in der Regel nicht mit Gewissheit, ob diese Hoffnung berechtigt ist oder nicht. Deshalb können wir auch keine therapeutische Richtung vorgeben, also zum Beispiel in Richtung Trauerprozess.
"Ich habe keine Vorgaben zu machen, was ich glaube, sondern dieser Mensch entscheidet das selbst"
Und wie trifft man da dann schließlich eine Entscheidung, wenn man den Betroffenen helfen will?
Preitler: Gar nicht! Ich muss diesen Menschen in der Situation, in der Phase begleiten, in der er sich gerade befindet. Ich muss an seiner Seite sein und aushalten. Aber ich habe keine Vorgaben zu machen, was ich glaube, sondern dieser Mensch entscheidet das selbst. Allerdings kann sehr oft die Therapie der Ort sein, an dem der Angehörige zum ersten Mal aussprechen darf: 'Vielleicht ist er (oder sie) tot!' Genau das wird nämlich von vielen Menschen als besonders schwierig erlebt, weil sie dabei das Gefühl haben, dem Vermissten den 'sozialen Todesstoß' zu versetzen. Und natürlich kommen da auch häufig noch große Schuldgefühle dazu. Übrigens geht das oft quer durch Familien. Das belastet dann noch zusätzlich - wenn ein Familienmitglied bspw. an der Hoffnung festhält, während die anderen schon abschließen. Da muss ich dann klar machen, dass beide Haltungen legitim sind. Außerdem ist es dabei wichtig, dass die Eltern ihren Kindern so viel von der Wahrheit erzählen, wie sie selbst wissen. Auch durch falsche Information - selbst wenn es gut gemeint ist - kann Trauer verhindert werden. Das führt später dann oft zu schwerem psychischem Leid. Und natürlich zu Vertrauensverlusten.
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Was kann den Angehörigen denn außer einer therapeutischen Begleitung noch helfen?
Preitler: Manchmal geht es tatsächlich ganz einfach, darum, dass ein Totenschein ausgestellt wird. Damit wird Evidenz hergestellt: Die Angehörigen haben eine Gewissheit. Ich habe viel in Sri Lanka gearbeitet, wo vor allen Dingen in den Jahren 1987 bis 89 unzählige Menschen verschwunden sind. Als 1994 dann die Opposition an die Macht kam, setzte sie mehrere Wahrheitskommissionen ein, die im Land unterwegs waren. Und die wurden von dem Ansturm an Menschen geradezu überrollt. Die meisten wollten einfach einen Totenschein für ihre verschwundenen Familienmitglieder ausgestellt bekommen. Damit konnten sie nämlich diesen 'sozialen Todesstoß' an eine neutrale staatliche Stelle delegieren. Da kommt natürlich auch noch der Faktor Zeit dazu: Hier waren inzwischen fünf bis sieben Jahre vergangen und die Menschen hatten inzwischen ein enormes Bedürfnis, die Ungewissheit zu beenden. In Srebrenica war das zum Beispiel wiederum ganz anders: Hier sollten schon bald nach dem Massaker Totenscheine ausgestellt werden. Das haben die Angehörigen aber massiv abgelehnt. Später bekamen sie dann durch das Freilegen von Massengräbern allerdings fast alle die traurige Gewissheit.
"Bestattungsrituale machen Sinn, denn Tod ist, psychologisch gesehen, 'Chaos' - und Strukturen helfen gegen das Chaos"
Kann es für die Angehörigen denn – trotz allem Schrecken – auch positiv sein, wenn Massengräber exhumiert werden?
Preitler: Ja, trotz des Schmerzes, der dann oft aufbricht: Wenn der Leichnam der vermissten Person gefunden und identifiziert ist, haben die Angehörigen Gewissheit und können den Trauerprozess beginnen. Und vor allen Dingen: Sie können den verlorenen Menschen nach ihren Ritualen und Traditionen bestatten. Das ist für die allermeisten Menschen ein wirklich tief empfundenes Bedürfnis und hilft ihnen beim Trauern. Im Übrigen ist das etwas, was allen menschlichen Kulturen gemeinsam ist: dass sie Bestattungs-, Beerdigungs- oder Totenrituale haben. Und das macht ja auch Sinn, denn Tod ist, psychologisch gesehen, 'Chaos' - und Strukturen helfen gegen das Chaos. Außerdem erfahren die Angehörigen dann auch Unterstützung von ihrem Umfeld: Wenn sie offensichtlich um einen Verstorbenen trauern, bekommen sie Hilfe, es wird Rücksicht genommen. All das fällt weg, wenn der Mensch 'nur' vermisst ist. Verschwinden lassen ist so gesehen 'doppeltes Chaos'.
Woraus können die Angehörigen in ihrer Unsicherheit und Trauer denn Kraft schöpfen?
Preitler: Die Stärke der inneren Ressourcen hängt fast immer damit zusammen, welche Jenseitsvorstellungen die Menschen haben. Eine positive Vorstellung von dem, was nach dem Tod passiert, kann enorm stärken. Prinzipiell kann Spiritualìtät eine Quelle der Kraft sein. Da spielen Dinge eine Rolle, wie zum Beispiel ein gutes Gottesbild oder eine persönliche Gottesbeziehung. Dann habe ich auch jemanden oder etwas, das tröstet. Eine starke religiöse Gemeinschaft kann natürlich auch eine Ressource sein. Eine andere Möglichkeit, Kraft zu schöpfen, haben Angehörigenorganisationen wie die 'Madres de Plaza de Mayo' entdeckt. Sie gehen mit der Suche nach ihren Vermissten an die Öffentlichkeit und sind politisch und sozial aktiv. Psychologisch gesehen betreiben sie damit im Prinzip auch 'Trauerverweigerung'. Aber sie lassen die Energie aus ihrer Wut nicht in Ohnmacht münden, sondern transformieren sie eben in etwas Positives.
Hilft den Angehörigen denn diese Art von Trauerverweigerung wirklich weiter?
Preitler: Ja, denn sie vermeidet das Gefühl des 'ohnmächtig Seins'! Das Schlimmste ist für die meisten Angehörigen von Verschwundenen das Gefühl der absoluten Ohnmacht und des Stagnierens. Sie können im Leben weder vor noch zurück, weil sie eben keine Gewissheit haben. Die Zeit läuft zwar weiter, aber ohne den vermissten Menschen. Das versuchen sie dann wenigstens innerlich, oft mit viel Energie, zu verhindern: Die Zeit steht für sie still. Bei einem 'normalen' Trauerprozess - so schrecklich er auch sein mag - erlauben die Angehörigen der Zeit, weiterzulaufen, sie bleiben in der Zeit. Angehörigen von schon länger Vermissten - die eigentlich gerne trauern würden, sich das aber nicht erlauben – hilft es daher oft, die Zeit zu betrauern, die sie nicht mit dem vermissten Menschen verbringen konnten. Auch das ist ja ein Verlust. Und so läuft auch ihre Zeit weiter.
"Die 'Verschwundenen' werden regelrecht ausgelöscht, ihre Existenz wird generell in Frage gestellt"
Immer wieder geht es in der Öffentlichkeit auch um das Thema "Gedenkstätten". Haben die Angehörigen von Verschwundenen denn von solchen Orten überhaupt etwas?
Preitler: Ja, aber nur, wenn sie nicht anonym sind, sondern die Namen der vermissten Personen mit einbinden. Das ist deswegen so wichtig, damit diese Menschen Spuren hinterlassen. Das Furchtbare beim Verschwinden ist nämlich, dass bei diesen Personen oft auch noch die Vergangenheit verschwimmt. Sie haben in der Regel keinen Grabstein, auf dem steht, dass dieser Mensch von ... bis ... gelebt hat. Sie werden regelrecht ausgelöscht, ihre Existenz wird generell in Frage gestellt. Deshalb ist es so wichtig - ob mit Fotos, Namen oder Erinnerungen - klar zu machen: Diesen Menschen hat es gegeben!