"Mein Ehemann Hugo Alberto Scutari war 27 Jahre alt, als er am 5. August 1977 auf der Straße entführt wurde. Ich wurde am gleichen Tag aus meiner Wohnung geholt. Wir wurden im Geheimgefängnis 'Club Atletico' auf dem Paseo Colon zwischen San Juan und Cochabamba festgehalten. Ich wurde 92 Tage lang gefoltert. Meinen Mann habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Seine letzten Worte an mich waren: 'Sei stark und gib mich nicht auf.' Diese Worte werde ich in Erinnerung behalten und in meinem Herzen - für den Rest meines Lebens. Für ihn und für die anderen 30.000."
Dies schrieb die Argentinierin Delia Barrera in einer E-Mail vom August 1995. Dokumentiert ist das Ganze auf der Internetseite "The Vanished Gallery" - einem von vielen Projekten, die versuchen, die Erinnerung an die geschätzten 30.000 'Desaparecidos' aufrecht zu erhalten. So werden die Menschen genannt, die während der Zeit der argentinischen Militärdiktatur verschwundenen sind. 'Verschwunden' bedeutet in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Betroffenen – in der Regel Oppositionelle – verschleppt, inhaftiert, gefoltert und meist auch ermordet wurden. Dann wurden ihre Leichname in Massengräbern verscharrt oder in große Gewässer geworfen. Sie verschwanden eben nicht einfach so: "Nicht die Erde hat sie verschluckt", wie ein Buch über die 'Desaparecidos' nicht von ungefähr heißt. Die Angehörigen aber bekamen nie eine Nachricht. Auch deshalb schreiben sie das Wort 'Verschwundene' immer in Anführungszeichen.
Ein nachhaltiges Klima der Angst und der Verunsicherung
Natürlich gab es die Praxis des 'Verschwindenlassens' nicht nur in Argentinien. In verschiedenen Staaten Lateinamerikas war diese Form von besonders perfidem Terror unter diktatorischen Regimes gängiges Mittel zur Bekämpfung von Oppositionellen, auch aus anderen Ländern. 1981 schlossen sich deshalb verschiedene Angehörigenvereinigungen und Nichtregierungsorganisationen zur FEDEFAM (Federación Latinoamericana de Asociaciones de Familiares de Detenidos-Desaparecidos) zusammen, die den "Internationalen Tag der 'Verschwundenen'" als Gedenktag ins Leben rief. Und seitdem wird dieser Gedenktag von verschiedenen Organisationen wie Amnesty International oder dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) genutzt, um mithilfe von Kampagnen, Demonstrationen und Aktionen weltweit Aufmerksamkeit für die Schicksale der Vermissten und ihrer Angehörigen zu erzeugen.
###mehr-artikel###
Schließlich ist das Verschleppen, geheime Internieren und Ermorden von Menschen auch in vielen anderen Regionen der Welt an der Tagesordnung – sei es als Mittel der Unterdrückung oder als Form der Auseinandersetzung in gewalttätigen Konflikten und Kriegen. Und leider erreichen die Aggressoren damit in der Regel auch das Ziel, das sie eigentlich verfolgen: Ein nachhaltiges Klima der Angst und der Verunsicherung. Oppositionelle Kräfte werden eingeschüchtert und eine Märtyrerbildung wird verhindert, während sich das Leben der Angehörigen häufig nur noch um den vermissten Menschen dreht, weil sie ihn nicht aufgeben wollen. Außerdem kämpfen sie oft auch mit einer rechtlichen Ungewissheit, etwa im Bereich des Erbrechts, Eherechts oder Sorgerechts für Kinder.
Deshalb setzt sich mittlerweile auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) für eine Ächtung dieser besonderen Form des Terrors ein. Erreicht wurde bisher zumindest ein kleiner Erfolg: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschloss vor genau 20 Jahren im Rahmen der Resolution 47/133 die "Deklaration über den Schutz aller Personen vor erzwungenem Verschwinden", die 2006 in eine UN-Konvention mündete. Allerdings ist dieses Vertragswerk bis heute noch immer längst nicht von allen UN-Mitgliedsstaaten unterzeichnet und ratifiziert. Unter den fehlenden Nationen sind auch Länder wie Großbritannien, Russland, China, Australien und die USA.
In mindestens 30 Staaten wird das 'Verschwindenlassen' ganz bewusst als 'politische Praxis' eingesetzt
Heute wird geschätzt, dass gegenwärtig in mindestens 30 Staaten das 'Verschwindenlassen' ganz bewusst als 'politische Praxis' eingesetzt wird. Gerade in Ländern wie Nepal, Kolumbien, Kaschmir, Tschetschenien, Pakistan, Weißrussland, Irak und den Philippinen sind in den letzten Jahren viele Menschen 'verschwunden'. Aber auch die USA ließen im 'Krieg gegen den Terror' immer wieder gezielt mutmaßliche Terroristen verschwinden, beklagt Amnesty International. Die Organisation weist darauf hin, dass im Moment ganz besonders in Syrien Menschen in Gefängnisse gesteckt, gefoltert und nicht selten umgebracht werden, ohne dass ihre Angehörigen irgend etwas über ihren Verbleib erfahren. Und in vielen Ländern suchen die Menschen auch etliche Jahre später noch nach Spuren ihrer Vermissten: Auf dem Balkan zum Beispiel werden so viele Jahre nach Kriegsende immer noch rund 19.000 Menschen vermisst. In Südafrika verschwanden während der Apartheid rund 1.500 Personen – ihr Schicksal bleibt häufig unklar. Und auch in der Türkei beispielsweise gibt es augenblicklich wohl noch rund 70 unaufgeklärte Fälle von Verschwinden.
###mehr-links###
Beim Versuch, Fälle von 'Verschwinden' aufzuklären, spielt das internationale Rote Kreuz eine besondere Rolle: Aufgrund seiner strikten Neutralität bekommen Mitarbeiter vom Roten Kreuz hin und wieder als Einzige zumindest die Chance zu einem Minimalkontakt mit Gefangenen, um die Haftbedingungen und den Gesundheitszustand der Inhaftierten zu überprüfen. Nachrichten von Mitarbeitern des Roten Kreuzes sind dann oft der erste Hinweis auf den Verbleib einer vermissten Person für die Angehörigen. Eine ganz besondere Einrichtung aber sind die Suchdienste des Roten Kreuzes, die es in jedem Land gibt und die bereits unzählige Menschen wieder zusammen geführt haben. In Deutschland wurde der Suchdienst 1945 gegründet und hatte natürlich während der Nachkriegsjahre eine Hochphase seiner Arbeit mit vielen schönen Erfolgen. Aber auch hier bleiben unzählige Schicksale ungeklärt, erst recht, wenn man die Geschichten der hier gestrandeten Flüchtlinge aus den Kriegs- und Krisengebieten weltweit und nicht zuletzt die durch Zwangsadoptionen 'Verschwundenen' in der DDR dazu zählt. Zurzeit liegt der Schwerpunkt der Suchdienstarbeit des Deutschen Roten Kreuzes bei Flüchtlingen aus Afghanistan, die ihre Angehörigen suchen.
Jorge Julio López verschwindet zum zweiten Mal - nach 30 Jahren.
Bei 'Verschwundenen', die verschleppt wurden, sind allerdings trotz allem die Aussagen von überlebenden Mithäftlingen oft die einzige Hoffnung, etwas über ihr Schicksal zu erfahren. Und sie sind in der Regel auch die einzige Möglichkeit, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. So wurde zum Beispiel auch gegen den damaligen Polizeichef von Buenos Aires, Miguel Etchecolatz, auf diese Weise Anklage erhoben. Der Maurer Jorge Julio López, der 1976 entführt wurde, drei Jahre später aber wieder frei kam, konnte gegen ihn aussagen – nach dreißig Jahren. Etchecolatz wurde schließlich verurteilt. Und López verschwand direkt danach, am 18. September 2006, erneut. Bis heute gibt es keine Spur von dem damals 77-jährigen. Seine Angehörigen vermuten, dass potenzielle weitere Zeugen eingeschüchtert werden sollten.
Vor 25 Jahren schrieb der britische Popmusiker Sting einen berühmt gewordenen Song zur Thematik über die argentinische Angehörigenorganisation "Madres de Plaza de Mayo". Der Titel "They Dance Alone" spielt darauf an, dass die Mütter vom Plaza Mayo in Buenos Aires das Alleine-Tanzen als Form gewählt hatten, um auf ihre vermissten Angehörigen aufmerksam zu machen, weil ihnen alles andere verboten war. Genau 25 Jahre später, am "Internationalen Tag der 'Verschwundenen'" 2012, gelten weltweit immer noch über zwei Millionen Menschen als 'verschwunden'!