"Ich such’ nicht mehr, ich finde nur" - Mit diesem Song der Band Bosse fängt mein Jahr 2024 an. Was für eine Zahl! Wird das ein gutes Jahr? Bis hierhin nicht. Um etwas zu finden, muss ich wohl zuerst was verlieren. Damit die Hände frei sind. Oder das Herz.
Und ich verliere. Haushoch. Das Jahr fordert Federn; langsam wird mir kalt.
Der Aufwind verpufft ins Leere, die goldigen Deals platzen nebenbei. Vielversprechende Pläne zerrinnen zwischen den Fingern. Freundschaften müssen aufs Eis; eins geht nur: arbeiten oder feiern. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal die Bude voll geladen habe und der Tisch gedeckt war bis zum Bersten voll mit Kuchen und Wein.
Ein Freund, den ich für echt halte, bricht mir das Genick. Die Eltern werden alt, älter, am ältesten. Steigen heraus aus ihren Siebenmeilenstiefeln, ob sie wollen oder nicht. Der Vater war mein Riese, langsam geht er krumm. Die Mutter hat einst alle Kinder aus der Straße versorgt, eine ganze Gemeinde satt gekriegt. Jetzt fehlt die äußere Kraft. Dem in die Augen zu schauen, kostet Demut, uns alle.
Mirjam Zücker, 1980 geboren, hat Skandinavistik studiert, eine Zeitschrift gegründet, ein paar gemäßigte Jahre in Berlin verbracht und lebt inzwischen mit Familie und Hund im sandigen Havelland. Sie schreibt vor allem für Kinder, ab und an auch für Erwachsene. Geboren wurde sie in Mecklenburg und ihr Herz schlägt ungebrochen für den Norden.
Dieses Jahr, dieses Leben, hinterlässt Spuren, viele davon bleiben.
Unsere Trennung liegt zwei Jahre zurück – aber dies ist das erste Weihnachten, das wir nicht als Vater, Mutter, Kinder um den Weihnachtsbaum knien. Die letzten zwei Feste haben wir trotzdem zusammen verbracht. Und die Zeit dreht sich weiter, es bleibt alles anders. So friedlich wie es ist, so hart ist es auch. Ich schminke meine frohe Miene auf zu schwerem Spiel; das kann ich so gut, das kennt man nicht anders von mir. Aber wenn ich ehrlich bin, dann ist mir bange. Wir wollen "Oh du Fröhliche" singen und Kartoffelsalat essen und die Würstchen braten, wir wollen glücklich sein, glückselig wie sonst nie. Aber einer wird nicht dabei sein, und vielleicht fehlt im Grunde alles andere auch: unsere heile Welt, die (vermeintlich) gewisse Zukunft und meine ungetrübte Zuversicht.
Ich weiß nicht, ob ich schneller rennen oder einfach stehen bleiben will. Ich habe Angst vor diesem Advent. Mein Herz ist dunkel. Ich sehe so viel Schwarz. Und wären die Alltage nicht so anstrengend, läge ich nachts grübelnd wach. Schuldgefühle drücken mir die Luft ab. Was haben wir den Kindern angetan? Zu viele Fragezeichen liegen über den kommenden Jahren. Und da klebt eine unbekannte Leere als Mantel an mir, schwer wie Blei und nicht abzuschütteln. Ich bin noch übrig von einem lebenslangen Wir, bin abgeschlagen wie ein in der Mitte gespaltener Baum. Und wo gehöre ich nun hin?
Was mein Zuhause war, ist nur noch ein Haus. Meine Heimat ist fortgespült, unwiederbringlich Land unter. Ich hänge Sterne in die Fenster, über die klaffenden Wunden.
So ist das also, wenn man sie nicht innig herbeisehnt, die süße, glockenklingende Zeit. Wenn die Festtage gern zügig verstreichen dürfen. Wenn es glitzert, weil da Tränen sind.
Ein Stern, ein Stall, das rettende Kind.
Oder drehe ich den Spieß um und frage mit Johannes Schönes Zumpe: "Warum geht es mir so gut?" Schaue gerade nicht auf die Dunkelheit in meinen vier Wänden, auf die Dunkelheit der Welt, sondern suche mir einen Weg raus ins Licht. Lenke meinen Blick Stunde um Stunde auf das Gute, das Schöne, das Wundervolle. Es ist ja auch noch da. Nur nicht ausschließlich. Nicht mehr das jauchzende Frohlocken. Ein Kyrie Eleison aber schon.
Am Ende ist Weihnachten noch jedes Jahr geworden, zu allen – ja selbst in den finstersten Zeiten. Ich will einmal mehr den Weg dorthin finden. Zur Krippe, zum Wunder zwischen Stroh und Gold, zum Retter im Stall.
Im Sommer war ich pilgern in Schweden. Ich habe nicht nur die märchenhafte Landschaft betrachtet, ich hielt unentwegt Ausschau nach den rot-grauen Pilgerkreuzen. Wegweiser, mal dichter und mal weit voneinander entfernt angebracht, oft nicht auf den ersten Blick zu finden. Ohne diese Wegweiser wäre ich kaum ans Ziel gekommen.
Was weist mir den Weg ins Licht? Die Jagd nach den idealen Weihnachtsgeschenken sicher nicht, auch nicht die Weihnachtsfilme auf Netflix & Co. Und auch die anderen geliebten Traditionen: Pfefferkuchen, Christbaum, Rotkohl, Gänsekeulen, halten die Last nicht aus. Sind dann eher Grubenfallen, die mich vom Weg abbringen.
Nein, ich lande beim Stern. Wo auch sonst. Hat er doch von Anfang an den richtigen, den rettenden Weg gewiesen. Beharrlich, geduldig. Ewig.
Ein Stern, ein Stall, das gerettete Kind.
Also suche ich – nein, ich finde Sterne im Advent. Auf meinen abendlichen Wegen durch die Stadt. In fremden Fenstern. In kleinen Gärten. Zu Verschenken vor der Tür. Von einer Tochter heimlich hingekritzelt auf die Tischplatte. Zwischen den Ausstechformen, vielfach. Am Himmel. Im Wind. Plötzlich überall. Manchmal sieht ein Lächeln aus wie zwei Sterne. Helle, warme Strahlen in dunkle Nächte hinein. Jeder eine Erinnerung: Da geht es lang. Über die Brücke der Dankbarkeit.
Und ich hoffe, träume, ahne: Vielleicht wird es wieder so schön.