Dorothee Sölle während des ökumenischen Abendmahls mit Zelebrierenden aus vier christlichen Kirchen am 02.06.2000 in der Hamburger Gnadenkirche während des Katholikentages.
epd-bild / Norbert Neetz
Die Theologin Dorothee Sölle bei einem ökumenischen Abendmahl in der Hamburger Gnadenkirche im Jahr 2000.
Serie: Bewegende Predigten
Sölle: Misch Dich für den Frieden ein
Am 6. September 1980 predigt Dorothee Sölle im Lübecker Dom über den biblischen Vers: "Selig sind die Friedensstifter." Ihre Auslegung wird bis heute als leidenschaftliches Plädoyer gegen den Militarismus und als Aufforderung zum aktiven Einsatz für den Frieden gewertet. Der Auftakt einer Serie über Predigten, die bis heute bewegen von evangelisch.de-Redakteurin Katja Eifler.

"Liebe Gemeinde, wir haben eben miteinander gesprochen: "Selig sind die Friedfertigen.' Lassen Sie mich noch zwei andere Übersetzungen dieses Verses ihnen auf den Weg geben - die eine, die sehr wörtlich ist, heißt: 'Selig sind die Friedensstifter, sie werden Gottes Söhne heißen." Und eine andere, die vielleicht das etwas dunkle Wort 'Selig' ein bisschen klarmacht: 'Freuen dürfen sich alle, die Frieden schaffen, sie werden Kinder Gottes sein.'"

Mit diesem Absatz beginnt die bis heute nachwirkende Predigt der Theologin und Sprachwissenschaftlerin Dorothee Sölle über den Bibelvers "Selig sind die Friedensstifter". Sie hält sie am 6. September 1980 im Lübecker Dom, in einer Zeit der erhöhten Spannungen zwischen Ost und West. Spannungen, wie sie auch heute zu spüren sind. Damals bestand durch ein gegenseitiges Wettrüsten die reale Gefahr eines nuklearen Konflikts. Zeitgleich erlebte die Friedensbewegung, in der Sölle selbst aktiv war, einen Aufschwung. Dies geschah insbesondere als Reaktion auf den NATO-Doppelbeschluss, der unter anderem die Aufstellung von mit Atomsprengköpfen bestückten Mittelstreckenraketen (Pershing II) in Deutschland vorsah.

Der bis dahin dominierenden Übersetzung der Seligpreisung durch Luther, "Selig sind die Friedfertigen", verleiht Sölle eine neue und aktivierende Nuance. Damit erzielte ihre Predigt eine weitreichende theologische, gesellschaftliche und politische Wirkung. "Ich glaube, dass die Übersetzung unseres Bibelverses 'Selig sind die Friedfertigen', wie wir sie von Luther kennen, eine Gefahr in sich trägt, nämlich die des friedlichen Dabeisitzens", predigt sie an diesem Tag im Dom. 

Für Sölle war die Luther-Übersetzung eine Verfälschung. "Dann müssen wir eine andere Übersetzung lernen, die mit 'Frieden machen', wie es im Urtext heißt, 'Frieden stiften', 'am Frieden arbeiten' zu tun hat." Sölle sah darin die Aufforderung ein aktives, eingreifendes Christentum zu leben: "Die, die wie Gott handeln, das heißt Frieden herstellen, werden seine Kinder genannt. So verstehe ich diese Seligpreisung", formuliert sie auf der Kanzel.

Um ihre Botschaft zu verdeutlichen, erzählt sie von einem Gespräch mit Rüdiger. Rüdiger, der damals Theologie studierte, hatte zuvor seinen Dienst bei der Bundeswehr ausgeübt. Anhand von Rüdigers Geschichte verdeutlicht Sölle, was es für sie heißt, aktiv Frieden zu schaffen. Einmischung beginnt mit persönlichem Mut, sichtbar zu werden – auch gegen Widerstände. "Da gehst du kaputt, oder du machst mit", beschrieb Rüdiger gegenüber Sölle seine Erfahrungen beim Bund. Er entscheidet sich für die Verweigerung des Dienstes an der Waffe, wird abgelehnt und verweigert erneut. Für ihn also, war es die richtige Zeit, um sich aktiv einzumischen.

Verlangt Glaube politisches Engagement?

"Wie wird man denn einer, der Frieden macht?", fragt Sölle im Verlauf der Predigt und betont: "Sich einmischen hat einmal damit zu tun mit dem 'Ich', das jemand nicht mehr versteckt und anonym hält." Rüdiger wird für sie sichtbar. Für die anderen war er aber "ein Spinner" geworden. "Auch Gott kann durch Gebote oder Versprechen nichts ändern. Heilen, Heilmachen, Neuwerden geschieht nicht durch Infusion, sondern durch Einmischen", setzt Sölle nach und schafft so eine Verbindung zwischen Glauben und politischen Engagement. 

Theologisch begründetes Friedensengagement

Diese veränderte Haltung, sich als Christ:in aktiv für den Frieden einzusetzen, gab damals und gibt heute, zahlreichen Menschen in der Friedensbewegung Mut zum Handeln und liefert ihnen auch eine theologische Begründung für ihr Engagement. In einem Podcast der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Titel: "Friedensperspektiven - Erinnerung an Dorothee Sölle" wird die Theologin zitiert mit den Worten: "Nicht nur wir brauchen Gott, also nicht nur wir brauchen den Papa, der alles richtet. Gott braucht uns."

Dorothee Sölle am Rednerpult auf dem Evangelischen Kirchentag der Mecklenburgischen und Greifswalder Landeskirche im Juni 1988.

Dorothee Sölle, die zu den prägendsten Theologinnen des 20. Jahrhunderts zählt, war grundsätzlich fest davon überzeugt, dass christlicher Glaube und politische sowie gesellschaftliche Verantwortung untrennbar miteinander verbunden seien. Bereits in den 60er-Jahren brachte sie vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs Menschen unterschiedlicher Überzeugung bei ihren "Politischen Nachtgebeten" in Köln zusammen. Gemeinsam beteten sie für den Frieden und protestierten gegen die soziale Ungerechtigkeit.

Aktionen, die für Christ:innen ungewohnt schienen

Reinhard Marwick zitiert in seinem Artikel " Gott will nicht alleine sein", erschienen auf der Website Lebenshaus-alb.de, Dorothee Sölle: "Irgendwann dämmerte es uns, dass wir uns nicht nur theoretisch mit theologischen Fragen beschäftigen durften, sondern dass diese Beschäftigung in eine Art Praxis einmünden muss." Die Gruppe, so schreibt es Marwick, führte daraufhin eine Prozession durch Kölns Innenstadt durch, unter dem Motto "Vietnam ist Golgatha". Das Credo lautete: Jeder theologische Satz muss zugleich ein politischer sein. "Das Aufsehen war groß, denn damals war die Öffentlichkeit solche Aktionen von Christen überhaupt nicht gewohnt", beschreibt Marwick seinen Eindruck des Szenarios.

Die "Politischen Nachtgebete" dienten später als Vorbild für die Montags-Friedensgebete in Leipzig, die wiederum den Anfang der Friedlichen Revolution in der DDR bildeten. Dorothee Sölle und ihre Gruppe sind damit eine der wenigen Vorbilder kirchlicher Prägung der west- und ostdeutschen Friedensbewegungen. In einem Interview im Spiegel vom 9. Oktober 1983 sagt sie: "Ich kann aber nicht verstehen, wenn Leute in die andere Richtung gehen und auch noch mit Christus rechtfertigen, dass sie mehr Bomben haben wollen und nicht weniger."

Sölle beteiligt sich aktiv an Sitzblockaden vor NATO-Militäreinrichtungen, wofür sie auch rechtliche Konsequenzen in Kauf nimmt. Sie spielt auch eine bedeutende Rolle in der internationalen Friedensbewegung. So tritt sie beispielsweise 1983 vor der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver auf, wo sie über Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung spricht, heißt es in dem Podcast der EKD, der an Sölle erinnert.

Mit einer Sitzblockade am 01.07.1988, an den drei Eingangspforten des US-amerikanischen Giftgaslager in Fischbach in der Pfalz, demonstrierten über 100 Anhänger der Friedensbewegung für die Abschaffung aller chemischen Kampfstoffe. An der Blockade  beteiligte sich auch die evangelischen Theologieprofessoren Helmut Gollwitzer und Dorothee Sölle (links im Bild).

Sölle entwickelt aus ihrer Überzeugung heraus eine "Theologie des Friedens", in der sie die christliche Werte mit aktivem Friedensengagement verknüpft. Ihre theologische Ansichten sind oft provokant und sorgten regelmäßig für Diskussionen innerhalb der Kirche. Ihr Einsatz gegen die Militarisierung, der sich in dieser Predigt im Lübecker Dom deutlich spiegelt, verknüpft sich mit ihrer Ablehnung einer passiven Haltung vieler Kirchen, gegenüber gesellschaftlichen Missständen.

Kirche soll sich aus ihrer Sicht aber auch aktiv gegen Ungerechtigkeit und Verelendung engagieren: "Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit. Die wirtschaftliche Verelendung, das ist für mich ein zentrales Thema", heißt es in dem Podcast der EKD. Ihre Gedanken, die sich als Essenz ihrer Predigt ergeben, beeinflussten auch die Entwicklung ihrer politischen Theologie, die sie in ihrem Werk "Sprache der Freiheit" darlegt. Auf heutigen Kirchentagen sind Themen wie Friede und Gerechtigkeit nicht mehr wegzudenken. 

Frieden stiften, eine Herausforderung bis heute

2003 stirbt Dorothee Sölle im Alter von 73 Jahren. Bis in die Gegenwart inspiriert sie mit ihrer unermüdlichen Forderung nach Frieden und Gerechtigkeit sowie ihrem Mut sich gegen vorherrschende Meinungen für eine gerechtere Welt einzusetzen, viele Menschen. 

Sie selbst war sich bewusst, dass sich ihr Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit in der Welt in ihrer eigenen Lebensspanne nicht umsetzen ließe. In ihrem Werk "Gegenwind" aus dem Jahr 1995 schreibt sie: "Als ich einmal sehr deprimiert war, hat mir ein Freund, ein Pazifist aus Holland, etwas sehr Schönes gesagt: 'Die Leute im Mittelalter, welche die Kathedralen gebaut haben, haben sie ja nie fertig gesehen. Zweihundert oder mehr Jahre wurde daran gebaut. Da hat irgendein Steinmetz eine wunderschöne Rose gemacht, nur die hat er gesehen, das war sein Lebenswerk. Aber in die fertige Kathedrale konnte er nie hineingehen. Doch eines Tages gab es sie wirklich. So ähnlich musst du dir das mit dem Frieden vorstellen.'" (Sölle, Gegenwind, S.228).

Immer wieder sind es Menschen oder Begebenheiten, die Sölle ihn ihrem Tun bestärken und sie nicht aufgeben lassen. So erzählt sie in ihrer Predigt "Selig sind die Friedensstifter" von einem Flugblatt aus dem Widerstand in Chile, welches sie in die Hand bekommt: "Diese Chilenen denken über ihre eigene Situation nach, wie sie unter dieser Diktatur leben, was dabei mit ihnen geschieht. Ich glaube, wir können vieles von dem, was sie dort sagen, für unsere Situation übernehmen, denn sie sagen: 'Misch dich ein! Verweigere die Kooperation mit dem Tod! Wähle das Leben!' Dann sagen sie, und damit möchte ich schließen: 'Lass nicht zu, dass man dir deine Seele austauscht! Amen!'"

Lesen Sie unter diesem Link die ganze Predigt im Wortlaut.