Fernseher vor gelbem Hintergrund
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17. November, ARD, 20.15 Uhr:
TV-Tipp: "Tatort: Lass sie gehen"
Wenn TV-Kommissare ihr gewohntes Revier verlassen müssen, erleben sie regelmäßig einen Kulturschock: Jenseits der Stadtgrenzen beginnt der Hinterwald. Die gesellschaftlichen Umwälzungen der letzten 60 Jahre haben hier keinerlei Spuren hinterlassen.

Die Uhren ticken zwar vernehmlich, doch die Zeit ist irgendwann stehen geblieben. Die Einrichtung ist dunkel, die Atmosphäre ist es auch. Wer in dieser Umgebung aufwächst, will vermutlich bloß eins: weg, und zwar so schnell wie möglich.

Geschichten dieser Art werden von westlichen Redaktionen gern im Osten angesiedelt, manchmal spielen sie auch in Bayern, aber "Lass sie gehen" ist ein "Tatort" aus Stuttgart. Mit der Schwäbischen Alb gibt es zwar eine württembergische Provinz, die diese Bezeichnung durchaus verdient, allerdings eher im positiven Sinn. So finster wie in diesem Film, der im Vorland der Alb angesiedelt ist, sind die Zustände zum Glück nicht, doch das ist aus Krimisicht natürlich zweitrangig: In erster Linie soll eine möglichst fesselnde Geschichte erzählt werden. Ausgerechnet das hat allerdings nur bedingt geklappt, und das liegt nicht nur an den Dorfklischees.

Der Film beginnt mit einer geschickt montierten kurzen Sequenz, in der die Ebenen durch die Dynamik der Bewegungen miteinander verbunden sind: Jugendliche werfen eine Frisbee, Männer schießen auf in die Luft geschleuderte Wurfscheiben, ein Mädchen stürzt auf einer Laufbahn, eine Wirtin lässt in der Küche einen Teller fallen. Kurz drauf kommen die Kommissare in die Gaststube: Am Neckar in Stuttgart ist die Leiche einer erwürgten jungen Frau gefunden worden. Hanna ist die Tochter der Wirtsleute, sie hat ihr Elternhaus verlassen, um in der Stadt eine Ausbildung zur Tischlerin zu machen. Lannert und Bootz (Richy Müller, Felix Klare) knobeln mit Streichhölzern aus, wer sich ein Zimmer im Gasthof nehmen muss, der andere darf wieder heim. Es trifft den älteren, der dem Kollegen wohl oder übel seinen geliebten Sportwagen überlassen muss, und sich nun unter den Einheimischen umhört.

Womöglich wäre dem Krimi mehr gedient gewesen, wenn Norbert Baumgarten (Buch) und Andreas Kleinert (Regie), die schon vor Jahren bei dem sehenswerten erotischen Liebesdrama "Sag mir nichts" (2016) zusammengearbeitet haben, ihrem Film eine komödiantische Note gegeben hätten. "Lass sie gehen" ist jedoch konsequent ernst gemeint und entsprechend zugespitzt: Julika Jenkins verkörpert die Wirtin getreu dem Bild jener furchtbaren Filmmütter, deren frömmelndes Naturell die Fluchtimpulse ihrer Kinder als einzig mögliche Rettung vor einem ähnlich tristen Leben erscheinen lassen. Zum Stereotyp des Hinterwaldfilms gehört auch die Bereitschaft zur Lynchjustiz: Als das Alibi des hoffnungslos in Hanna verliebten jungen Marek (Timocin Ziegler) platzt und er nach einem vergeblichen Fluchtversuch festgenommen wird, besteht für die männlichen Dorfbewohner auch nach der Freilassung kein Zweifel an seiner Schuld. Außerdem, und das ist nicht minder entscheidend: Die Familie Gorsky, Weltkriegsflüchtlinge aus dem heutigen Polen, ist nicht von hier; und was sind schon achtzig Jahre im Vergleich zu den Alteingesessenen.

Um die Provinzialität der Gemeinde zu betonen, sprechen die Mitwirkenden einen ausgeprägten Dialekt, der anderswo durchaus als Schwäbisch durchgehen mag; Menschen mit württembergischen Wurzeln wird allerdings nicht entgehen, dass Jenkins (Heidelberg) und ihr Filmgatte Moritz Führmann (Nordhessen) anderswo aufgewachsen sind. Immerhin klingt der gebürtige Sindelfinger Michael Sideris authentisch. Er spielt den Wortführer des Mobs, der sich nach der Freilassung Mareks umgehend zusammengerottet hat. Der Mann hat ein großes rotes "M" ans Haus gepinselt. Das macht ihn zumindest aus Publikumssicht natürlich hochgradig verdächtig. Gleiches gilt für Hannas sitzengelassenen Verlobten (Sebastian Fritz), der Marek wohl zu Tode geprügelt hätte, wenn der Wirt nicht dazwischen gegangen wäre. 

Abgerundet wird die allgemeine Tristesse durch eine Bildgestaltung (Michael Merkel), die mit "düster" nur unzureichend umschrieben ist. Gerade im Dorf gibt es praktisch keinen Farbklecks, auch die Kleidung ist betont unbunt, selbst die Wände in der Gaststube sind dunkel. Kleinert ist mehrfach mit dem Grimme-Preis und 2022 mit dem Deutschen Filmpreis für seine formidable Brasch-Hommage "Lieber Thomas" ausgezeichnet worden. Auch "Lass sie gehen" hat zumindest optisch das Prädikat "künstlerisch wertvoll" verdient, aber Handlung und Umsetzung hätten besser zum Schwarzwald-"Tatort" aus Freiburg gepasst.