Das Ermittlerduo Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff (Tim Bergmann, Felicitas Woll) muss nicht bloß eine Mordserie aufklären, sondern auch weitere Taten verhindern, was natürlich zunächst nicht gelingt, obwohl die beiden die potenziellen Opfer kennen.
Marcus O. Rosenmüller, der seit der dritten Adaption, "Mordsfreunde" (2014), alle nach den Romanen von Nele Neuhaus entstandenen Episoden inszeniert hat, verzichtet diesmal auf das Grauen, das zuletzt bei "Böser Wolf" (2016) einen Teil der Faszination ausgemacht hatte. Auch optisch gibt es deutliche Unterschiede. Die Bildgestaltung oblag zwar wie meist bei Rosenmüller dem Kameramann Stefan Spreer. Aber diesmal kommen die beiden von einer wichtigen stilistischen Ausnahme abgesehen ohne Schnörkel aus: "Die Lebenden und die Toten" ist wie ein Präsent ohne Geschenkpapier und Schleife.
Bei der Kameraführung setzt Spreer ebenfalls keine auffälligen Akzente. Der Umgang mit den Bildern ist fast puristisch, als habe Rosenmüller verdeutlichen wollen: Der Star dieses Films ist die Geschichte, und die ist 180 Minuten lang fesselnd.
Dabei hat "Die Lebenden und die Toten" auch einen echten Star zu bieten: Der Scharfschütze, der im Taunus scheinbar wahllos Menschen erschießt, wird von Ulrich Tukur verkörpert. Mit dem Besetzungscoup sorgt der Film natürlich für ein Signal: Ein Schauspieler dieses Formats würde keine x-beliebige Rolle in einem x-beliebigen Krimi übernehmen. Zunächst sind es jedoch vor allem die irritierenden Begleitumstände der Morde, die den Reiz der Figur ausmachen: Dirk Stadler geht in eine Bäckerei, kauft ein Brot, wechselt ein paar freundliche Worte mit einer Verkäuferin, steigt auf das Dach eines 800 Meter entfernten Hauses und erschießt die Frau. Mit ähnlich kühler Präzision geht er auch bei seinen weiteren Taten vor. Dass dieser zwar alleinstehende, aber keineswegs psychopathische Mörder seine Opfer nicht willkürlich auswählt, ist offenkundig, aber wie perfide sein Racheplan ist, ahnen die Ermittler erst, als sie endlich eine Verbindung herstellen können, aber nicht zwischen den Opfern, sondern zwischen den Hinterbliebenen: Stadler bestraft sie, indem er ihnen die Liebsten nimmt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Schon diese ungewöhnliche Ausgangsposition verspricht einen interessanten Krimi, doch die Handlung wird noch viel komplizierter; und deshalb war es auch völlig angebracht, den Roman als Zweiteiler zu verfilmen. Geschickt integriert das Drehbuch (Rosenmüller und Kris Karathomas) auch die verschiedenen Subthemen: Bodenstein und Kirchhoff finden raus, dass Stadlers Frau vor einigen Jahren beim Joggen eine Hirnblutung erlitten hat. Als in der Klinik der Hirntod festgestellt wird, überreden der zuständige Arzt (Stephan Kampwirth) und die Transplantationskoordinatorin (Tanja Wedhorn) die Tochter der Frau zur Organfreigabe; Stadler ist im Ausland und telefonisch nicht zu erreichen. Helen (Saskia Rosendahl) ist hin und hergerissen zwischen den Argumenten der Klinikmitarbeiter, die sie moralisch unter Druck setzen, und der Entrüstung ihres Großvaters (Peter Lerchbauer), der sich vehement gegen die Organspende ausspricht. Dieser Diskurs wirkt fast wie ein Exkurs, ist aber trotzdem kein Fremdkörper.
Stadler konfrontiert Helen nach seiner Heimkehr kühl mit dem Testament der Mutter, in dem sie aus Glaubensgründen explizit untersagt hat, ihre Organe zu spenden. Die junge Frau ist nun erst recht in ihren Grundfesten erschüttert, zumal sie sich ohnehin Vorwürfe macht, weil sie nicht wie verabredet gemeinsam mit der Mutter Joggen war. Kein Wunder, dass die Polizei nicht weiter nachforscht, als sich Helen schließlich umbringt.
Die Wahrheit sieht jedoch ganz anders aus; der Film nimmt eine völlig unvorhersehbare Wendung, und auch Bodenstein landet auf Stadlers Todesliste, was Teil eins einen angemessenen Cliffhanger und Teil zwei ein spannendes Finale beschert. Rosenmüller verwendet in den betont farbentsättigten Rückblenden eine faszinierende Technik, die diese Personen wie aus dem Nichts erscheinen und auch wieder verschwinden lässt, als wollten die Bilder sagen: Wir sind nur Gast auf Erden. Stadler, Richter und Henker in einer Person, sorgt mit seinen Vergeltungsaktionen dafür, dass diese Gastspiele vor der Zeit enden. Die Fortsetzung zeigt 3sat am kommenden Dienstag.