Nemo holte beim ESC den Sieg
Jens Büttner/dpa
Nemo aus der Schweiz jubelte nach dem Gewinn im Finale des Eurovision Song Contest 2024 mit Dornenkrone.
Zu Referendum zum ESC 2025 in Basel
Nemo und der Kampf um die große Bühne
Die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) hat erfolgreich ein Referendum über die finanzielle Unterstützung des Eurovision Song Contest (ESC) 2025 in Basel beantragt. Konkret geht es darum, ob die Stadt und der Kanton einen Kredit in Höhe von 37,5 Millionen Franken gewähren darf, damit der ESC in Basel in vollem Umfang geplant und ausgerichtet werden kann. Was ist da los? - fragt die evangelische Pfarrerin und Kreuz & Queer-Bloggerin Kerstin Söderblom in einem Gastbeitrag für evangelisch.de.

Die Eidgenössisch-demokratische Union ist eine evangelikale Kleinpartei in der Schweiz. Sie begründet ihre seit Monaten anhaltende Mobilisierung gegen die Finanzierung des ESC-Events für Mai 2025 in Basel damit, dass der ESC in den letzten 15 Jahren angeblich zur "Propagandaplattform für Homosexuelle und Nicht-Binäre" verkommen sei. Dafür sollten im Kanton Basel keine Steuergelder ausgegeben werden.

Der Chef der Partei warf Nemo - eine non-binäre Person, die den Song Contest im Mai 2024 in Malmö gewann - Gotteslästerung vor, da er die göttliche Ordnung zerstören wolle. Nemo bekam nach seinem Sieg beim ESC im Mai 2024 von der irischen ESC-Sängerin Bambie Thug eine Dornenkrone aufgesetzt. Diese Szene sei ein Beweis dafür, dass Nemo sich zum christlichen Erlöser stilisieren wolle, erklärte der Chef der EDU weiter. Der ESC werde damit zum "Brandbeschleuniger für Versuche, Andersdenkende mundtot zu machen".

Die Partei hat über 4.200 Unterschriften unter dem Motto "Stop ESC in Basel!" gesammelt und damit mehr als doppelt so viele Unterschriften wie für die Beantragung eines Referendums auf kantonaler Ebene nötig sind. Andere Parteien wie die Basler Schweizerische Volkspartei (SVP) oder die Basler Grünen werben dafür, die Eurovisions-Förderung für 2025 wie geplant beizubehalten. Sie betonten, dass Menschen über den ESC verschiedener Meinung sein könnten. Aber es sei nun einmal eine Großveranstaltung mit großer Ausstrahlung, die eine enorme Wertschöpfung für die Stadt bedeute.

Ob es dazu kommt, werden die Bürger:innen des Kantons am 24. November abstimmen. Sollte die Bevölkerung gegen den finanziellen Beitrag votieren, würde der ESC deutlich kleiner werden.

Nun ließe sich pragmatisch argumentieren, dass das Referendum "Stop ESC in Basel!" eine regionale Posse sei, die nicht weiter beachtet werden sollte. Aber bei der Frage um die Finanzierung dieses Mega-Events geht es um mehr: Einerseits geht es um viel Geld, Prestige und öffentlichkeitswirksame Tourismuswerbung. Andererseits geht es um einen erbitterten Kampf um gesellschaftliche Werte und Normen, kulturelle und religiöse Deutungshoheiten.

Vorwurf: "Propagandashow für Homosexualität und Okkultismus"

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die EDU und andere Gruppierungen, die den ESC als "Propagandashow für Homosexualität und Okkultismus" diskreditieren, der Andersdenkenden die Meinung verbiete, ein alt bekanntes Narrativ benutzen: Queere Personen, die sich öffentlich als schwul, lesbisch, trans* oder non-binär zeigen, weil sie so nun einmal so sind, wie sie sind, wird politische Propaganda oder Gender-Ideologie vorgeworfen.

Die eigene Position dieser konservativ evangelikalen und oft rechtspopulistischen Gruppierungen wird dagegen als "gerechter Kampf" für traditionelle Familienwerte, für eine "natürliche" Geschlechterordnung und für die "göttliche Ordnung" dargestellt. Diese angebliche göttliche Ordnung bedient bekannte heteronormative und cis-normative Positionen, die alle, die davon abweichen, wahlweise als sündig, pervers oder als ideologisch abqualifizieren.

Mühsamer Prozess des Coming-outs von Nemo

Dabei übersehen sie gnadenlos, dass es für Nemo ein langer schmerzhafter Weg war, sprachfähig zu werden und sich als non-binär zu outen. Es war ein langer Weg, die eigene Stimme und die Musik zu finden, die für Nemo passt und biographisch relevant ist. Es ist viel darüber berichtet worden, inwieweit der Text und auch die Performance des Songs "The Code" den mühsamen Prozess des Coming-outs von Nemo als non-binäre Person beschreibt. Josephine Haas schreibt in einer Predigt über Nemos Song, der hier auf evangelisch.de  
veröffentlicht
worden ist: "This story is my truth!/Diese Geschichte ist meine Wahrheit!", singt Nemo am Ende des Intros und nimmt uns mit in die eigene Geschichte. In Nemos Erfahrungen und Gefühle.

Da ist einerseits das Gefühl, gefangen zu sein: Nemo singt von Ketten. Ketten können uns körperlich gefangen halten. Aber es gibt auch Ketten im Kopf. Und von denen singt Nemo auch: Von Normen und von Spielregeln. (…) Nemo singt auch davon, die Hölle durchquert zu haben. Für mich ein Bild äußerster Qual, äußerster Gefangenschaft und äußerster Einsamkeit. Was muss Nemo erlebt haben, um Lebenserfahrungen als "die Hölle durchqueren" zu beschreiben?

Viel zu oft werden Personen, die von der zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Norm abweichen, immer noch als von Gott Abgefallene und der Hölle würdig verurteilt. Von Menschen, die dieses vermeintliche Gottesurteil aus eigener Überzeugung sprechen. Weil in ihren Augen einfach nicht sein darf, was mensch sich selbst nicht vorstellen kann."

Verletzbar und angreifbar

Wie verletzbar und angreifbar Nemo sich damit gemacht, wird von der EDU und anderen Kritiker:innen weder gesehen noch gewürdigt. Das wäre nach meiner Überzeugung tatsächlich christlich – und ganz sicher menschlich gewesen. Stattdessen wird in einem Rundumschlag alles abgewertet und als gegen die göttliche Ordnung dargestellt, was von den selbst ernannten Retter:innen des christlichen Abendlandes als Propaganda abgetan wird. Damit weisen sie exakt das Verhalten auf, gegen das sich Nemo in "The Code" mit der biographischen Erzählung vom Gang durch die Hölle wehren muss.

Wieder einmal wird damit pseudo-religiöse Sprache und eine angebliche göttliche Autorität missbraucht, um eine klar queerfeindliche Position zu legitimieren. Opfer werden zu ideologischen Täter*innen stilisiert. Diskriminierung wird zum religiösen Bekenntnis, um dahinter die eigenen Vorurteile und ideologischen Vorannahmen zu verbergen.

Warum können sich christliche Personen nicht einfach darüber freuen, dass eine nicht-binäre Person mit einer wunderbaren Stimme und einer beeindruckenden Performance einen Song gesungen hat, der viele Menschen weltweit berührt und begeistert? Warum können sie nicht mit-feiern, dass die Sänger:innen des ESC divers, bunt – und ja, oft auch schrill und provokant singen, tanzen, performen und damit Einblicke in ganz verschiedene Lebenswelten geben, die sonst im kulturellen Mainstream wenig vorkommen?

Christlich steht nicht für Ausgrenzung und Abwertung

So lange keine menschenverachtenden Hassbotschaften gesungen werden oder Gewalt verherrlicht wird, sind und bleiben musikalische und tänzerische Akte bunt, provokant und oft ganz bewusst auch schräg und schrill. Damit sollen Normalitätskonstruktionen und Regulierungsprozesse kritisiert und ausgesetzt werden. Dafür sind Kunst, Musik und kulturelle Ausdrucksformen da. Das mag nicht allen gefallen. Mensch muss die Musik ja auch nicht anhören oder die Kunst nicht ansehen. Aber solche Darstellungen ausgerechnet dann zu diskreditieren, wenn Personen aus Minderheitengruppen künstlerisch ihre Gefühls- und Lebenswelten mit auf die Bühne bringen, ist nicht nur geschmacklos, sondern gnadenlos.

Christlich steht für mich gerade nicht für Ausgrenzung und Abwertung von Personen aus Minderheitengruppen. Christlich steht für mich auch nicht für die Verteidigung von heteronormativen und cis-normativen "göttlichen Ordnungen". Christlich steht für mich für gastfreundliche Begegnungsorte, an denen die Vielfalt des Lebens und des Leibes Christis gefeiert werden und Wege ausprobiert werden, wie Menschen trotz oder gerade wegen ihrer Unterschiede respektvoll und wertschätzend miteinander umgehen und zusammenleben können.

Christ:innen weltweit können dazu beitragen, dass Menschen respektvoll miteinander umgehen. Denn jede einzelne Person ist nach G*ttes Ebenbild geschaffen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlechtsidentität, Behinderung und sexueller Orientierung. Kunst, Musik und kulturelle Ausdrucksformen besitzen die Kraft, von diesen Unterschiede zwischen den Menschen zu erzählen, ohne sie vereinheitlichen zu wollen. Alle Beteiligten müssen aushalten, dass sie verschieden sind und auch nie einer Meinung sein werden. Das braucht Ambiguitätstoleranz und Respekt vor den anderen. Religiöser Sprache, die mit scheinbarer göttlichen Autorität andere abwertet und verunglimpft, braucht es nicht.

Zum Schluss ein Zitat aus einem Interview mit Nemo: "‘The Code' handelt von der Reise, die ich mit der Erkenntnis begann, dass ich weder ein Mann noch eine Frau bin. Die Selbstfindung war für mich ein langer und oft schwieriger Prozess. Aber nichts fühlt sich besser an als die Freiheit, die ich durch die Erkenntnis gewonnen habe, dass ich nicht-binär bin."

Nemo hat mit dem Song "The Code" viele Menschen weltweit berührt und erreicht. Der ESC gibt solchen Songs eine internationale Bühne. Grund genug, sich auf den nächsten ESC in Basel 2025 zu freuen und ihm eine große und schillernde Show zu wünschen.

Zum Weiterlesen:

Wer sich für die Inhalte des Songs "The Code" und die biografischen Hintergründen von Nemo interessiert, kann das u.a. in der Predigt von Josephine Haas auf evangelisch.de nachlesen. "This Story is my Truth!"

Christian Seiler, Das Magazin, Nr. 18 (4.5.2024), Ein Star namens Nemo,