Unterschiedliche Wege im Wald
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Welchen Weg sollen wir wählen, um sprachfähig zu werden, ohne Partei zu ergreifen oder indifferent zu bleiben?
mission.de
Position beziehen, ohne Partei zu ergreifen?
Der Konflikt in der Region, die viele Menschen aus der Bibel oder sogar persönlich kennen, beschäftigt die Weltgemeinschaft. Christ:innen, als Teil dieser Weltgemeinschaft, sollten sich damit auseinandersetzen, findet Peggy Mihan in ihrem Blogbeitrag und überlegt, wie es uns gelingen kann, sprachfähig zu werden, ohne Partei zu ergreifen oder indifferent zu bleiben.

Der Konflikt in Israel und Palästina spitzt sich täglich mehr und mehr zu. Längst betrifft er nicht mehr nur die Region, sondern die ganze Weltgemeinschaft. Ich finde es wichtig, dass wir Christ:innen uns als Teil dieser Weltgemeinschaft damit auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang erlebe ich oft eine gewisse Unsicherheit, wie wir darüber reden können. Kann es uns gelingen, sprachfähig zu bleiben, ohne zwangsläufig Partei zu ergreifen oder indifferent zu bleiben?

Dieser Beitrag ist ein Versuch.

Für die gesamte jüdische Welt war der 7.10.2023 ein Trauma. Unaussprechliche, unbeschreiblich grausame Dinge sind an diesem Tag geschehen. Unvorstellbar, wie es die Überlebenden der Shoa wahrgenommen haben mögen.

An diesem Tag ermordete die islamistische Terrororganisation Hamas über 1.200 Menschen, die große Mehrheit von ihnen waren jüdische Zivilist:innen. An diesem Tag besiegelte die Hamas damit auch das Leid und den Tod zahlloser Palästinenser*innen. An diesem Tag verloren jüdische Menschen weltweit ihr Gefühl von Sicherheit, denn überall auf der Welt steigt der Antisemitismus rasant an.

Und noch etwas ist an diesem Tag geschehen: Die internationale progressive Linke hat an diesem Tag etwas verpasst. Sie hätte sich der israelischen Linken gegenüber solidarisch erklären können. Sie hätte sie auffangen, trösten können. Gemeinsam hätte man nach Wegen suchen können, Palästinenser:innen zu beschützen, ohne jüdische Menschen zu gefährden. Sie, wie auch die Arabische Liga, hätten den israelischen Hardlinern, all jenen, die behaupten, Israel müsse mächtig und hart sein, um sich vor seinen Nachbarn zu schützen, die es vernichten wollen, den Wind aus den Segeln nehmen können. Sie hätten dieses eine Mal die Hamas klar und deutlich verurteilen können. All das ist an diesem Tag nicht geschehen.

Welches Maß legen wir an?

Seitdem sind viele Tage vergangen. Der Konflikt schreitet fort und wir müssen uns fragen, welches Maß legen wir an, wenn wir das, was passiert bewerten. Denn ergreifen wir nicht schon, wenn wir das Maß wählen, Partei? Oder legen wir vielleicht sogar zweierlei Maß an? Geht es wirklich erst jetzt, wo Israel Gaza angreift, um Menschenrechte, Zivilist:innen, Frauen und Kinder? Sollte es nicht auch am 7. Oktober, als die Hamas Israel angegriffen hat, schon darum gegangen sein?

Fakt ist: Seit dem 7. Oktober 2023 nimmt der Antisemitismus zu und wir als Kirchen haben eine Verantwortung, klar und deutlich zu sagen, dass wir dafür nicht nur keinen Platz haben, sondern dass wir uns dem auch klar und deutlich entgegenstellen.

Dabei dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass Bewertungen und Stimmungen schnell kippen. Da hieß es verallgemeinernd: "Berlin feiert!" Ich lebe in Berlin – Nein, ich habe nicht gefeiert …

Doch ich gebe zu, meine Gedanken waren bei Menschen in der Westbank, mit denen ich persönlich bekannt bin. Die Antwort auf meine Frage, wie es ihnen geht, war kurz: "Hier ist es ruhig. Aber: Betet für Gaza, betet für Gaza!" Da hatte der israelische Angriff noch nicht begonnen.

Was beeinflusst unsere Ansichten?

So haben wir alle unsere unterschiedlichen Beziehungen zu Israel und Palästina. Das, was wir sehen, denken und sagen, speist sich aus den jeweils eigenen Erfahrungen. Wie sehen wir das Land, die Region? Als die Heimat des jüdischen Volkes, als Ort, wo auch unser christlicher Glaube seine Wurzeln hat oder als das dem Volk Israel von Gott versprochene gelobte Land?

Wie beurteilen wir den Staat Israel? Als Garant für die Sicherheit der jüdischen Menschen in einem ihm feindlich gegenüberstehenden Umfeld, als neue Heimat von Vertriebenen und heimatlos gewordenen Menschen, seit vielen Jahren, ganz besonders jedoch seit dem Ende des 2. Weltkrieges? Oder als einen Staat, der (nach einem Krieg, den die arabischen Nachbarländer nach der Unabhängigkeitserklärung Israels begannen) auch Gebiete eroberte, die nach dem UN-Plan zum arabischen Staat Palästina gehörten und dadurch zwischen 600.000 und 800.000 Menschen arabischer Herkunft heimatlos machte?

Ist die jüdische Religion die Wurzel, aus der im späteren Verlauf Christentum und Islam entstanden – drei Religionen, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen? Oder hat sie – wie manche meinen – bis heute nicht erkannt, dass der Plan Gottes für die ganze Welt auf Jesus Christus und seine Erlösungstat hinausläuft?

Was sind meine persönlichen Kontakte zu Menschen aus Israel und Palästina? Welche Rolle spielen sie in meiner Meinungsbildung?

Ich bin, wie so oft in Konflikten, innerlich zerrissen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht umhinkomme, eine Position zu beziehen.

Vielleicht hilft es, dass "Position beziehen" nicht unbedingt etwas mit "Partei ergreifen" zu tun haben muss. Mir hilft es, zu sagen: Ich kann und darf meine Position auch verändern, wenn sich mein Erfahrungshorizont erweitert.

Friedens- und Versöhnungsarbeit bleibt unabdingbar

Das Geschehen am 7. Oktober war ein Akt unvorstellbarer Grausamkeit. Es ist ebenso unerträglich, mit anzusehen, was aktuell in Gaza passiert. Über 40.000 Menschen verloren dort bereits ihr Leben. Ich nehme das wahr und erwarte von keiner Seite, dass sie in dem Moment, in dem sie ihre eigenen Opfer beklagt, anerkennt, dass auch die andere Seite Opfer hat. Auch ein "Ja, aber…" ist hier unangemessen.

Mir ist bewusst, dass es keinen wirklichen Frieden geben wird, solange jemand denkt, mehr Recht zu haben. Solange es ein Gefälle zwischen Konfliktparteien gibt, wird es keine Versöhnung geben. Deshalb ist und bleibt Friedens- und Versöhnungsarbeit unabdingbar.

Wir als Kirchen könnten Räume dafür öffnen und schaffen – unter der Voraussetzung, dass wir Christ:innen uns selbst nicht als die besseren Menschen betrachten. Wir könnten die Augen offenhalten, wo wir Gleichgesinnte finden, die im Miteinander einen Mehrwert sehen. Einfache Antworten wird es so nicht geben. Unkomplizierter wird das Leben so auch nicht. Aber ehrlicher. Das ist schon sehr viel wert.

Mut hat mir ein Text gemacht, den mir ein jüdischer Freund kurz nach dem 7. Oktober schickte. Er stammt von Irwin Keller, Rabbiner einer jüdischen Gemeinde in Kalifornien, und er gibt in seinem lyrischen Text Taking Sides eine Antwort auf die Frage, auf welcher Seite er steht:

"Ich stehe auf der Seite des Friedens."

Und dort stehe ich auch.

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