Die Arbeitsfassung dieses dörflichen Krimidramas vom SWR trug noch den rätselhaften Titel "Geschmolzene Scherben", aber die Anspielung aufs Bibelzitat ("der werfe den ersten Stein") passt sehr gut, denn ohne Schuld ist in dieser Geschichte kaum jemand; auch nicht die Kommissarin aus der schwäbischen Landeshauptstadt. Dass ausgerechnet sie in die Provinz geschickt wird, um einen Mord aufzuklären, ist etwas delikat, und das nicht nur, weil sie in hier aufgewachsen ist.
Die Älteren kennen Anita Wild (Lou Strenger), seit sie ein kleines Mädchen war, die Gleichaltrigen erinnern sich lebhaft an ein sehr intimes Video, durch das sie in jungen Jahren zur lokalen Berühmtheit wurde; allerdings hat es auch ihren Ruf ruiniert. Ob sich eine Polizistin angesichts dieser Rahmenbedingungen wirklich darauf einlassen würde, einen Fall in der alten Heimat zu übernehmen, ist zwar unwahrscheinlich, ergänzt die Krimiebene jedoch um einen interessanten Hintergrundaspekt.
Im Vordergrund steht die zweite Hauptfigur: Paul Stiller (Aaron Hilmer) ist Erzieher im Kindergarten. Der künstlerisch begabte junge Mann hat kein Abitur, hätte aber womöglich trotzdem die Aussicht auf ein Studium, wenn er sich nicht selbst im Weg stünde; es gibt offenbar keinen Abend, an dem er nüchtern ins Bett geht. In der Nacht nach einem Dorffest, das mehr einem organisierten Besäufnis als einer Feier ähnelt, ist ein Mann erschlagen worden. Adem Yildirim war der Ex von Pauls Freundin Bella (Antonia Moretti), und weil der Film damit beginnt, wie die junge Frau Adem über ein großes Lagerfeuer hinweg anlächelt, während Paul immer betrunkener und aggressiver wird, scheint der Fall klar.
Bildfetzenartige Rückblenden, Blutflecken auf seinem T-Shirt und eine wahrscheinlich von einem Faustschlag rührende Verletzung seiner Hand legen den Schluss nahe, dass der Abend kein gutes Ende genommen hat. Er selbst kann sich allerdings an nichts mehr erinnern. Dennoch handelt es sich bei "Wer ohne Schuld ist" nicht um einen landläufigen Krimi; der Film ist in erster Linie ein Dorfdrama über junge Menschen, die der trostlosen Enge ihres Alltags entfliehen wollen, aber nicht die Kraft finden, sich aufzuraffen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dazu passen die tristen Bilder, mit denen Regisseurin Sabrina Sarabi und die agile Kamera von Michal Grabowski die Geschichte (Buch: Lilly Bogenberger, David Weichelt) erzählen. Die kühle Atmosphäre ist von einer gewissen Verlorenheit geprägt. Das gilt vor allem für die Jugendlichen, die ohne Hoffnung und Perspektive scheinen. Prototypisch in dieser Hinsicht ist Pauls Saufkumpan Fridolin (Max Wolter), den selbst seine Teenager-Schwester Pia (Johanna Götting) beim Nachnamen Heiliger nennt, weil das alle tun.
Auch Pia ist ausgesprochen trinkfreudig. Fridolin arbeitet als Gelegenheitshilfskraft im Betrieb seines Vaters, der aber keine Lust mehr hat, seinen Sohn durchzufüttern. Ähnlich freudlos ist die Ebene mit Anita, die während der Ermittlungen bei ihrer Mutter wohnt. Deren Haus ist von der gleichen Düsternis wie das Verhältnis der beiden Frauen, die sich im Grunde nichts zu sagen haben.
Natürlich lebt "Wer ohne Schuld ist" auch von der Frage, wer Adem auf dem Gewissen hat, selbst wenn eigentlich kein Zweifel daran bestehen kann, dass Paul den Nebenbuhler erschlagen hat. Nicht minder groß ist die Neugier, was wohl in dem Video zu sehen ist, mit dem sich Anitas Ex-Freund einst erfolgreich an ihr gerächt hat, nachdem sie die Beziehung beendet hatte. Ansonsten hat das Drehbuch nicht allzu viel Handlung zu bieten, selbst wenn es nebenbei noch um die vermutlich längst erloschene Liebe zwischen Paul und seiner zunehmend genervten Freundin geht. Dass das Drama dennoch fesselt, liegt vor allem am Ensemble.
Gerade die jungen Mitwirkenden spielen ihre Rollen ausnahmslos sehr überzeugend, was die Handlung einerseits sehr authentisch wirken lässt, die Tristesse aber andererseits noch verstärkt. Der Arbeitstitel bezieht sich auf die Reste einer im Feuer geschmolzenen Flasche, die Anita aus der Asche holt. Sie selbst, das legen einige Andeutungen nahe, war einst auch kein Kind von Traurigkeit. Das erklärt vielleicht, warum sie sich in einem Moment der Schwäche dazu hinreißen lässt, den Hauptverdächtigen zu küssen. Ihrem damaligen Freund, der das Video verbreitet hat, haut sie bei der Befragung einen Becher auf den Kopf. Beides ist nicht unbedingt professionell, macht die von Lou Strenger ebenfalls sehr verloren verkörperte Kommissarin aber ebenfalls zu einer interessanten Figur.