Fernseher vor gelbem Hintergrund
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12. Oktober, ZDF, 20.15 Uhr:
TV-Tipp: "Stralsund: Kaltes Blut"
Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen. Seither ist der Krieg tägliches Thema in den Nachrichten. Das Schicksal der geflüchteten Familien ist längst Gegenstand diverser Dramen. Die politischen und wirtschaftlichen Dimensionen sind dagegen bislang vernachlässigt worden, und das macht diese 23. "Stralsund"-Episode besonders.

Diese 23. "Stralsund"-Episode "Kaltes Blut" beginnt mit winterlich unwirtlichen Aufnahmen der Hansestadt. Eine Frau erzählt ihrem Mann, dass sie schwanger sei. Später steht sie auf, geht in den Garten und telefoniert mit ihrem Vater, als plötzlich eine maskierte Gestalt auftaucht und sie verschleppt. Ein Nachbar hat den Überfall beobachtet, greift zum Gewehr und verletzt den Angreifer, wird jedoch von einem zweiten Mann erschossen. Die Familie der Frau wird per SMS über die Entführung informiert, außerdem soll sie die Leiche beseitigen und selbstredend die Polizei raushalten. 

Der Auftakt verspricht einen fesselnden Krimi, zumal die fortan in einem finsteren Kellerloch eingesperrte Irina (Patricia Ivanauskas) offenkundig überrascht ist, dass so eine Entführung kein Spaß ist, wenn sie realistisch sein soll. Die Polizei wiederum lässt bei ihrer Familie nicht lange auf sich warten: Der im Meer entsorgte erschossene Nachbar war der Bruder von Irinas Schwiegermutter. Anett Viet (Johanna Gastdorf), gewissermaßen die Titelfigur, reagiert reserviert auf die Todesnachricht, angeblich hatte sie "wenig Berührungspunkte" mit dem Bruder. Schüsse will sie, wie auch ihr Sohn Oskar (Max Koch), nicht gehört haben. Beide versichern, Irina sei verreist.  

Zu einer besonderen Geschichte wird der dritte Fall für Jule Zabek (Sophie Pfennigstorf), als sie und ihr Chef Karl Hidde (Alexander Held) überraschenden Revierbesuch bekommen. Polina Kross (Heike Trinker) arbeitet für die Abteilung Wirtschaftskriminalität beim Berliner BKA und bittet um Amtshilfe. Sie hat die Viets schon lange im Visier: Die Firma der Familie produziert maritime Steuerungstechnik für Unterwasserdrohnen. Die Technologie dient wissenschaftlichen Zwecken, kann aber auch militärisch genutzt werden, weshalb sie bestimmten Auflagen unterliegt; nach Russland darf sie erst recht nicht geliefert werden. Kross ist überzeugt, dass das Unternehmen gegen das Handelsembargo verstößt. Daran kann in der Tat, wie Petra K. Wagner (Buch und Regie) recht bald offenbart, kein Zweifel bestehen, zumal Irinas russischer Vater als Mittelsmann dient. Aber warum dann die Entführung, hinter der wohl ebenfalls Russen stecken? Und welches Spiel treibt Anett Viet, die als Matriarchin alle Fäden in der Hand hat?

Zum dritten Mal bestätigt sich, wie gut es war, dass das ZDF "Stralsund" nach dem Ausstieg von Katharina Wackernagel nicht eingestellt hat. Jule Zabeks psychische Probleme sind zwar kein Thema mehr, aber gerade wegen Sophie Pfennigstorf ist die Kommissarin nach wie vor eine ungewöhnliche Ermittlerin. Dank ihrer unkonventionellen Art kommt sie auch ohne richterliche Beschlüsse auf dem kleinen Dienstweg an wichtige Informationen. Dass sich die Zufallsbekanntschaft (Philipp Seidler), mit der sie eine der letzten Nächte verbracht hat, ausgerechnet als Sohn des Entführers (Tom Keune) entpuppt, klingt konstruierter, als es in der Umsetzung wirkt. Stralsund ist nun mal nicht Berlin; Hidde und das Mordopfer waren sogar in einer Klasse. Interessanter ist allerdings die Konstellation im Revier. Polina Kross gibt sich zwar aufgeräumt und leutselig, aber die notorisch misstrauische Jule entwickelt dennoch eine instinktive Abneigung, und das nicht nur, weil sich die Frau in ihrem Büro breit macht: Als die Berlinerin ihre eigene Mission in Gefahr sieht, behindert sie die Mordermittlungen. Die Süffisanz, mit der Jule die Kollegin auskontert, hätte das Potenzial für weitere Konflikte. 

Wagner hat auch den letzten "Stralsund"-Krimi geschrieben und inszeniert ("Tote Träume", 2023). "Kaltes Blut" ist handwerklich solide, aber nicht weiter aufregend (Kamera hier wie dort: Peter Polsak). Die Bildgestaltung ist eher ruhig, sodass die Musik (Oliver Kranz) mit ihrem zuweilen heftig ins harmlose Geschehen donnernden Schlagzeug allzu kräftige Kontrapunkte setzt. Wie alle Filme Wagners ist allerdings auch dieser darstellerisch sehenswert. Gerade Johanna Gastdorf versieht ihre Rolle mit einer reizvollen Ambivalenz. Zwar deutet ein kleiner Einschub an, dass Anett Viet durchaus ein Herz hat, aber wenn sie "Wir sind eine Familie!" sagt, klingt das wie eine Drohung.