An den Baumstann lehnen und lauschen
Klaus Kühlewind
Beim Waldbaden geht es ums die Wiederbelebung der Sinne, ob laufend oder sitzend am Baumstamm gelehnt soln Achtsamkeit gelernt werden.
Achtsamkeit gegen Stress
Waldbaden - Was macht man da?
Achtsamkeitstraining Waldbaden gegen Stress: Hier tauchst du in die Natur ein. Renate Haller hat es ausprobiert und berichtet über ihre Erfahrungen.

"Ich sitze im Wald, lehne mit dem Rücken an einer Eiche und lausche. Auf was eigentlich?", fragt sich Redakteurin Renate Haller. "Dem Rauschen lauschen", heißt die Übung. Aufgetragen hat sie mir Katja Lange, ihres Zeichens Leiterin für den Kurs "Waldbaden". Sie hat eine kleine Gruppe von Erwachsenen in ein Waldstück in Bad Homburg im Taunus geführt. Dort hat sich jeder und jede einen Platz gesucht, die Sonne scheint durch das Blätterdach.

Frankfurt ist nah, im Wald sind viele Menschen unterwegs. Ich höre in der Ferne Stimmen und Autos. Doch dann macht sich auch ein Vogel bemerkbar, erst einer, dann mehrere. Plötzlich höre ich es knistern und rascheln. Kleine Zweige und Eicheln fallen von den Bäumen, einzelne Blätter segeln zu Boden, wo schon unzählige andere liegen.

Als Katja Lange ihr kleines Glöckchen bimmeln lässt, tauche ich auf aus einer wohltuenden Konzentration auf das Hören. Beim Waldbaden geht es um Entspannung, sagt die Kursleiterin, um Ruhe und Stressabbau. Sie selbst hatte vor einigen Jahren Krebs, gefolgt von einem Burnout und dem Bewusstsein, ihrem Leben eine neue Richtung geben zu müssen. Sie las vom Waldbaden und war fasziniert.

Die Idee kommt aus Japan. Dort haben in den 1970er Jahren psychische Erkrankungen zugenommen, erklärt Jasmin Schlimm-Thierjung, Geschäftsführerin und Inhaberin der Deutschen Akademie für Waldbaden und Gesundheit. Die Menschen seien gestresst und kaum noch draußen. Studien hätten gezeigt, dass es ihnen schon nach 20 Minuten in der Natur besser geht. Dort heißt Waldbaden Shirin Yoku. Es gibt dort das Eintauchen in die Natur seit vielen Jahren auf Rezept.

Grün steht für Heilung

Die Erkenntnis, dass der Aufenthalt zwischen den Bäumen den Menschen gut tut, ist auch in Deutschland nicht neu. Das wusste schon die Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098 bis 1179). Sie hat beschrieben, dass die Farben des Waldes eine wohltuende Wirkung auf den Menschen haben, sagt die Pädagogin und Therapeutin Jasmin Schlimm-Thierjung. Grün stehe für Heilung, Braun sei ein "Seelenschmeichler". Und auch der Theologe Sebastian Kneipp (1821 bis 1897), Erfinder der Kneipp-Medizin, habe nach seinen Kneippgängen einen Waldgang empfohlen.

Beim Waldbaden ist der Wald mehr als eine Kulisse, sagt Katja Lange. Es gehe um die Wiederbelebung der Sinne, die wir moderne Menschen nur zu einem geringen Prozentsatz ausschöpfen.  Nach der Hörübung geht es im Wald um "die Liebe zum Detail", um das Sehen. Jeder schnappt sich eine Lupe und geht auf die Pirsch nach dem Kleinen, dem Unbemerkten, dem Überraschenden. Zuerst bewundere ich die Struktur eines Tannenzapfens, die Anordnung der einzelnen Stückchen übereinander und deren filigrane Statik.

Stresslevel sinkt im Wald

Mein Blick fällt auf drei Eicheln, die aneinandergewachsen sind und schließlich entdecke ich die Schleimspur einer Schnecke. Die durchsichtige Masse glitzert unter den Sonnenstrahlen, beginnt unvermittelt auf einen Rindenstück und endet ebenso plötzlich etwa 20 Zentimeter weiter. Ich verstehe gar nicht, warum sie mir nicht sofort aufgefallen ist, so sehr drängt sie nun in meinen Blick.

"Ein Problem der Menschen ist die Reizüberflutung", sagt Jasmin Schlimm-Thierjung. Gespräche, Musik, Verkehr, Maschinen. Der Blick fällt auf stetiges Blinken und Leuchten, Bildschirme für Arbeit oder Unterhaltung sind rund um die Uhr eingeschaltet. Im Wald dagegen gibt es ein ruhiges Spiel von Licht und Schatten, der Lärm ist gedämpft oder weit weg und die ätherischen Öle der Bäume hängen in der Luft. "Die Atmung wird tiefer, der Stresslevel sinkt", sagt Schlimm-Thierjung.

Krankenkassen erstatten Waldbaden-Gebühren

Die Akademie-Leiterin nennt messbare Gesundheitsdaten, die der achtsame Aufenthalt im Wald mit sich bringe: Blutzucker und Blutdruck sinken, Stresshormone bauen sich ab. Seit Mai 2020 sei das Waldbaden deshalb auch als "Stressbewältigung durch Achtsamkeit im Wald" von der Zentralen Prüfstelle für Prävention der Krankenkassen zertifiziert.

Verschiedene Krankenkassen erstatteten die Kursgebühren. In der Deutschen Akademie für Waldbaden und Gesundheit werden seit 2017 Kursleiterinnen und Kursleiter für das Waldbaden ausgebildet. Die Krankenkassen bieten zertifizierte Kurse in ganz Deutschland an, sagt Schlimm-Thierjung. Die Corona-Pandemie hat ihre Arbeit beeinträchtigt. Es habe Menschen gegeben, die Kurse aus Angst vor Ansteckung abgesagt oder umgebucht haben, andere seien neu dazu gekommen. "Viele Fitnessstudios orientieren sich um und suchen nach Zusatzangeboten", erklärt Schlimm-Thierjung.

Beim "Waldbaden" geht es ums Schlendern, Rhythmus und die leichte Bewegung im eigenen Tempo, um den Kontakt zum Boden und zum Wald.

Die Gruppe auf der kleinen Waldlichtung im Taunus ist derweil beim Fühlen angekommen. Katja Lange zieht Schuhe und Strümpfe aus und läuft los. Es geht ums Schlendern, Rhythmus und die leichte Bewegung im eigenen Tempo, um den Kontakt zum Boden. Die meisten tun es Lange nach. Wir folgen ihr, wie die jungen Gänseküken ihrer Mutter.

Die Gruppe auf der kleinen Waldlichtung im Taunus ist derweil beim Fühlen angekommen. Katja Lange zieht Schuhe und Strümpfe aus und läuft los. Es geht ums Schlendern, Rhythmus und die leichte Bewegung im eigenen Tempo, um den Kontakt zum Boden. Die meisten tun es Lange nach. Wir folgen ihr, wie die jungen Gänseküken ihrer Mutter.

Moos löst die verkrampften Füße

Die Kursleiterin läuft langsam, scheint piksende Äste, kleine Steinchen oder harte Eicheln nicht zu spüren. Ich dagegen bin verkrampft, mir tun die Pikser weh, mein Gang ist eher eierig, denn schlendernd. Dennoch folge ich, erklimme auch den vor mir liegenden Stamm. Er ist durchgängig mit Moos bewachsen. Sofort löst sich meine verkrampfte Fußmuskulatur. Der Stamm ist wider Erwarten weich, fast flauschig. Viel zu schnell bin ich am Ende, steige runter und wappne mich gegen erneute Schmerzen. Es kneift und sticht, aber es ist leichter auszuhalten. 

Vor mir entdecke ich einen flachen größeren Stein, ich laufe darüber und freue mich: Die glatte Fläche ist ein Fühlerlebnis der besonderen Art, kühl und schmeichelnd. Die letzte Übung des Nachmittags heißt "Waldsolo". Wir suchen uns wieder einen Baum, setzen uns daran und tun – nichts. Wieder höre ich es knacken und rascheln, Stimmen auf einem Weg, der in nicht allzuweiter Entfernung an unserm Platz vorbeiführt. Ich mache es mir bequem, richte mich ein an meinem Baum, tauche ein in die besondere Atmosphäre des Waldes. Es ist ein windstiller Tag, dennoch kann ich es jetzt hören: das Rauschen der Baumwipfel über mir.

evangelisch.de dankt indeon.de für die Kooperation.