Laut christlicher Überlieferung wurde an jener Stelle, an der sich heute die Kirche befindet, Jesus gekreuzigt und dort befindet sich demnach auch sein Grab. Auch die Auferstehung Jesu fand laut christlichem Glauben hier statt, weshalb sie auf Arabisch "die Kirche der Auferstehung" (Kanisatu al-Qiyamah) heißt.
Das Gebäude wird von unterschiedlichen christlichen Konfessionen genutzt: Die assyrisch-orthodoxe Kirche hält ihre Messen dort auf Aramäisch, also der Sprache Jesu während die Liturgiesprache der griechisch-orthodoxen Kirche Arabisch ist. Neben diesen beiden Gruppen beanspruchen aber auch der römisch-katholische Orden der Franziskaner sowie die armenische, die koptisch-orthodoxe und die äthiopische Kirche den religiös-historischen Ort für sich.
Dieses Nebeneinander sorgt nicht selten für Streit zwischen den christlichen Konfessionen. Umso wundersamer mag es sich zugleich anhören, dass bei so vielen Vertretern des Christentums ausgerechnet zwei muslimische Familien für den Schlüssel zuständig sind, welcher das Tor der Kirche öffnet und schließt.
Der zweite Kalif Omar und die Eroberung Jerusalems
Anders als im Christentum lehnen islamische Quellen und Gelehrte das Narrativ der Kreuzigung und Tötung von Jesus (der im Islam ein zentraler Prophet ist, aber nicht als Sohn Gott betrachtet wird) deutlich ab. Demnach hat der Ort, an dem sich die Grabeskirche heute befindet, für Muslime keine religiöse Bedeutung. Dennoch ist es die Familie Nuseibah, die für das Auf- und Zusperren des Kirchentors zuständig ist, während die Familie Judeh wiederum für die Aufbewahrung des Schlüssels beauftragt wurde. Dieser ehrenvolle Auftrag, von dem beide muslimischen Familien stets stolz berichten, hat eine lange Tradition. Die Familie Nuseibah führt diese Mission auf das siebte nachchristliche Jahrhundert zurück, in welchem Muslime unter dem zweiten islamischen Kalif Omar ibn al-Chattab (gest. 644 n. Chr.) Jerusalem eroberten. Unter den Kriegern des Kalifen – so die Familiengeschichte – befand sich ein Ahne der Nuseibahs mit dem Namen Abdullah ibn Nuseibah, der von Omar beauftragt wurde, die Grabeskirche sowie andere Kirchen und nichtmuslimische Heiligtümer zu beschützen.
Eine Erzählung, die man außerdem sehr häufig in der Jerusalemer Altstadt hört, wenn man den Basar durchstreift oder Moscheen und Kirchen besucht, ist, dass der zweite Kalif Omar es ablehnte, in der Grabeskirche zu beten, weil er den Status der Kirche als christliche Glaubensstätte durch seinen Besuch nicht gefährden wollte. Stattdessen habe er sich entschlossen, sein Gebet außerhalb der Kirche zu verrichten – auch damit seine muslimischen Anhänger die Kirche in Zukunft nicht für sich beanspruchen würden.
Direkt gegenüber dem Haupteingang der Grabeskirche befindet sich heute die sogenannte "Moschee von Omar", die an diesen respektvollen Akt des Kalifen erinnern soll. Die Moschee von Omar wird in vielen Reiseführern, aber auch in Werken, die einen wissenschaftlichen Standard beanspruchen (wie etwa die Encyclopædia Britannica), fälschlicherweise mit dem Felsendom von Jerusalem gleichgesetzt. Dabei handelt es sich beim Felsendom nicht einmal um eine Moschee, obgleich seine Bedeutung im Islam als Ausgangspunkt für die Himmelfahrt des Propheten Muhammad unvergleichbar zentral bleibt. Bei der Moschee von Omar handelt es sich jedoch im Vergleich zum prunkvoll verzierten Felsendom um einen weitaus bescheideneren Bau, welcher erst Ende des 12. Jahrhunderts n. Chr. von Al-Afdhal Nur ad-Din Ali, einem Sohn des berühmten Ayyubiden-Sultans Salah ad-Din (auch Saladin genannt), errichtet wurde. Es war auch jener Sultan Salah ad-Din, der die einflussreiche Joudeh-Familie als Hüter des Schlüssels auserkoren haben soll. Seitdem teilt sich die Familie Nuseibah mit der Familie Joudeh die Mission der Schlüsselverwaltung für die Grabeskirche.
Neutrale muslimische Verwalter
Ein Mitglied der Familie Nuseibah, der Menschenrechtsanwalt und Professor an der Al-Quds-Universität, Munir Nuseibah, erklärt evangelisch.de in einem Interview, dass der Schlüssel der Grabeskirche muslimischen Familien anvertraut wurde, eben weil sie keinen Anspruch auf sie legen. Die christlichen Konfessionen, so führt er aus, würden sich sonst darum streiten, wer den Schlüssel haben soll, und womöglich versuchen, ihren eigenen Einflussbereich in der Grabeskirche zu erweitern. Deshalb habe man sich darauf gerichtet, nicht mit der Tradition der Schlüsselverwaltung zu brechen, weil die beiden muslimischen Familien als "neutrale" Fraktionen angesehen werden. Für das Öffnen und Schließen des Tores ist ein älterer Verwandter Munirs, nämlich der 70-jährige Wajeeh Nuseibah, zuständig. Wajeeh erfüllt diese Mission seit mehr als 40 Jahren, wobei ihm der Schlüssel von einem Mitglied der Familie Joudeh überreicht wird. Trotz der spannungsreichen Geschichte und Gegenwart der stets umkämpften Stadt Jerusalem scheint es auch immer Momente des gegenseitigen Respekts zu geben. So stellt der Schlüssel für die Grabeskirche zugleich seit Jahrhunderten symbolisch auch den Schlüssel für ein christlich-muslimisches Miteinander dar.