Der Arbeitstisch des Waldenserpfarrers Henri Arnaud
epd-bild / Gustavo Alabiso
Der Arbeitstisch des Waldenserpfarrers Henri Arnaud steht im Waldensermuseums in Ötisheim. Dort befinden sich auch sakrale Gegenstände, Bibeldrucke, eine Gesangbuchsammlung sowie Zeugnisse des Kirchenliedguts der Waldenser.
Politisch links und oft zu spät
Waldenser kämpften in Württemberg ums Überleben
Als Glaubensflüchtlinge wagten die Waldenser um 1700 in Württemberg einen Neustart. Doch ihr Leben blieb von Armut geprägt. In den Fabriken war ihre Mitarbeit geschätzt, die Landeskirche hätte sich die Migranten aber frömmer gewünscht.

Sie lebten in Württemberg, aber sie gehörten lange nicht dazu - und wollten auch nicht dazugehören: Waldenser kamen Ende des 17. Jahrhunderts als evangelische Glaubensvertriebene aus dem Piemont und durften auf Geheiß des württembergischen Herzogs Eberhard Ludwig im Westen des Landes siedeln. Bei Calw gründeten 24 Familien mit 134 Menschen im Jahr 1700 das Dorf Neuhengstett. Ein neu erschienener Studienband zeichnet nun ihre Geschichte nach.

Die Württemberger verbanden mit dem Zuzug der Waldenser Hoffnungen. Die Migranten sollten Land wieder fruchtbar machen, das nach Ende des Dreißigjährigen Krieges ein halbes Jahrhundert brach gelegen hatte. Auch erwartete man sich Impulse für die Textilproduktion, denn die Flüchtlinge waren für ihre Expertise in der Seidenspinnerei bekannt. Dass die Waldenser zudem die Kartoffel in den deutschen Südwesten einführten, hatte man in Stuttgart vermutlich nicht auf dem Plan.

Nicht alle Hoffnungen ließen sich erfüllen. Tatsächlich kamen hart arbeitende Bauern, deren Mentalität sich von der schwäbischen aber weit unterschied. Weder waren sie so fromm, wie man das von Glaubensflüchtlingen erwartet hätte, noch hatten sie den Ehrgeiz oder die Möglichkeit, in Sachen Bildung mit den Württembergern mitzuhalten. Die Konsequenz: Neuhengstett blieb über zwei Jahrhunderte eine der ärmsten Siedlungen im Südwesten.

Immerhin schafften es die Bauern, ihre Familien selbst zu versorgen; verhungern musste niemand. Aber zu Wohlstand kamen sie nicht. Profitabel für beide Seiten war die Nähe zu Calw, das sich zur Industriestadt emporarbeitete und das für die Neuhengstetter in einer Stunde Fußmarsch erreichbar war. In Calw liebte man den Fleiß und die Ehrlichkeit der "Welschen" und stellte sie gerne als Arbeiter ein. Dass sie es mit der Pünktlichkeit nicht so genau nahmen und mit ihrem südeuropäischen Temperament schnell erregbar waren, nahmen die Unternehmer in Kauf.

Fleißige Heimarbeiter

Einige Jahrzehnte ermöglichten die Calwer Firmen vielen Familien "Homeoffice": In den Häusern wurden Strümpfe gefertigt, Zigarren gerollt und Täschchen genäht. Mit dem Bau der Eisenbahn im Nordschwarzwald kamen neue Verdienstmöglichkeiten hinzu. Die Waldenser wählten in Neuhengstett zwar politisch links, hatten aber keine revolutionären Neigungen und galten nicht als aufmüpfig.

Zwei Jahre nach der Ankunft bauten die neuen Siedler eine Holzkirche, die schnell verfiel und durch eine weitere Holzkirche ersetzt wurde. Nachdem sich auch dieses Gotteshaus als wenig haltbar erwiesen hatte, entschied man sich für eine Steinkirche, die 1769 eingeweiht wurde. In reformierter Tradition gab es am Altar kein Kreuz, woran man sich auch nach der Eingliederung in die lutherische württembergische Landeskirche 1823 hielt. Erst 1967 bei einer Renovierung richtete die Gemeinde hinter dem Altar ein großes Kreuz auf.
Die Berichte über mangelnde Frömmigkeit in Neuhengstett ziehen sich durch viele Jahrzehnte. 1840 hieß es in einem Pfarrbericht, dort sei man "vom Ideal einer christlichen Gemeinde ziemlich ferne". 80 Jahre später ist davon die Rede, dass Gottesdienstbesucher sogar verspottet wurden. Im pietistisch geprägten Württemberg hatte man sich das Glaubensleben in der Waldenser-Enklave offenbar anders vorgestellt.

Heute sind die Konturen verschwommen und die Waldenser integriert. Im Telefonbuch von Althengstett, zu dem Neuhengstett gehört, finden sich zwar noch gehäuft Waldenser-Nachnamen wie Ayasse, Jourdan und Talmon. Doch nachdem die Siedlung ihren französischen Dialekt, das Patois, aufgrund eines Sprachverbots aufgeben mussten, ließ sie sich auch leichter in das württembergische Bildungssystem integrieren. Ein Waldensermuseum mitten im Dorf sorgt dafür, dass die Geschichte nicht vergessen wird.