"Das Besondere an mir war sicherlich, dass ich eines der ersten Kinder war, das in der Waldenser-Gemeinde in Riesi aufgewachsen ist", erklärt Gustavo Alàbiso. Als Sohn eines waldensischen Diakonenpaares hat er seine Kindheit in den 60er Jahren auf dem Monte degl Ulivi verbracht und wuchs in und mit dem sozialen Projekt auf. Das Zentrum, dessen Name sich auf den biblischen Ölberg bezieht, wurde in den Jahren 1963 bis 1966 außerhalb der sizilianischen Stadt Riesi für die 1961 von dem waldensischen Pfarrer Tullio Vinay gegründete Diakonieeinrichtung Servizio Cristiano (Christlicher Dienst) errichtet.
Es bestand aus einem Gemeinschaftshaus mit Speisesaal, Küche und Wohnungen, einem Kindergarten, einer Grundschule, einer Berufsschule für Mechaniker, einer Bibliothek und einem Haus für Familien. Gustavo Alàbiso gehörte 1968 zu den ersten Kindern, die die neu gegründete Grundschule des Servizio Cristiano besuchten und im Zentrum wohnte.
"Vor allem die Familie meiner Mutter sind Waldenser seit Generationen. Sie wollte auch nicht, dass ich den Monte degli Ulivi verlasse. Ich habe das nie verstanden. Ich konnte ihre Ängste nie nachvollziehen und fand alles absurd", so Gustavo. Dies war anfangs kein Problem. Seine Schulkameraden kamen fünf Tage die Woche und nach der Schule wurde auf dem anliegenden Bolzplatz gespielt. Doch am Wochenende fühlte er sich einsam auf dem Ölberg, denn er musste im Servizio Cristiano bleiben, und mit seinem vier Jahre älteren Bruder hat ihn damals nichts verbunden.
Alles in allem war er jedoch glücklich. "Hier auf dem Monte degli Ulivi herrschte ein tolles Ambiente. Die Menschen hier engagierten sich, es gab eine Grundschule, einen Kindergarten, kulturelle Angebote und sogar eine Beratungsstelle für Frauen, die eine der ersten in Italien war. Auch wenn ich oft das einzige Kind war, habe ich alles genossen", so Gustavo. Alles änderte sich, als er mit elf Jahren die weiterführende Schule in Riesi besuchen musste.
"Ich fühlte mich innerlich zerrissen."
"Auf einmal war ich mit einer anderen Realität konfrontiert und wusste nicht mehr, wo ich hingehöre. Ich habe total die Orientierung verloren und war völlig unvorbereitet für diesen Wechsel in die Realität", so Gustavo. Zwar hatte er nicht mit Anfeindungen seitens der Dorfbewohner zu kämpfen, denn sein Vater war gebürtig aus Riesi, aber er fühlte sich innerlich zerrissen. Sein Leben in der Gemeinde war sehr strukturiert – man aß gemeinsam mit den anderen Waldensern, seine Mutter – selbst eine Musiklehrerin – lehrte in Klavierspielen, um sieben Uhr war er im Bett.
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Sein Leben als Schüler der städtischen Schule war anders. Riesi war auf einmal ein Ort, an dem er sich nicht mehr wohlfühlte. "Die Leute haben mich akzeptiert, alles war okay. Aber ich fühlte, ich war das eigentliche Problem", so Gustavo. Halt haben ihn damals seine Schulkameraden gegeben. "Meine Schulkameraden waren alles für mich", so Gustavo.
Mit einigen hat Gustavo Alàbiso sehr enge Freundschaften geschlossen. Doch nachdem er Riesi als junger Mann verlassen hatte, verlor er viele aus den Augen. "Vor einigen Jahren dann bemerkte ich, dass ich bereit war, mich wieder mit meinem Leben in Riesi zu beschäftigen, also machte ich mich 2015 auf den Weg, die in ganz Europa verstreuten alten Schulkameraden zu besuchen", so Gustavo. So entstanden Fotos, die nun in einer Wanderausstellung in verschiedenen Orten Deutschlands zu sehen ist.
"Die Geschichten von Waldensern und Hugenotten sind ähnlich"
"Die Ausstellung trägt den Namen "Immagina Riesi – Stell dir vor, wie Riesi sein könnte - Protestantisch auf Sizilien" und ich habe sie gemeinsam mit Ehrenamtlichen der hugenottischen Friedrichstadtkirche in Berlin konzipiert", erklärt Gustavo. Vor allem einer Ehrenamtlichen, nämlich Daniela Liebscher, hat er dieses Projekt zu verdanken: "Meine Mutter ist Waldenserin und hat Gustavos Mutter im ökumenischen Begegnungszentrum 'Agape' in Prali kennengelernt", erzählt Daniela Liebscher, Kuratorin der Ausstellung.
In der norditalienischen Stadt, nahe der Grenze zu Frankreich, 80 Kilometer südwestlich von Turin, hat Vinay in den frühen 50er Jahren das ökumenische Begegnungszentrum "Agape" gegründet, in dem er junge Leute zu gemeinsamem Leben und Arbeit vereinen wollte. "Meine Mutter hatte damals gelesen, dass Gustavo einen Dokumentarfilm über die Waldenser gedreht hat und auch eine Ausstellung dazu plant", so Daniela.
Ihr Interesse war sofort geweckt und im Internet fand sie die Kontaktdaten von Gustavo Alàbiso, der mittlerweile als Fotograf in Karlsruhe lebt. "Ich habe ihn kontaktiert und ihm erzählt, dass ich ein Kinderfoto von ihm habe, auf dem Arm von meiner Mutter. Er erzählte mir, dass sein Sohn in Berlin lebt, und ich habe mich sofort mit ihm getroffen." Gemeinsam entwickelten sie die Idee, eine Ausstellung mit Alàbisos Fotos in der Hugenotten-Gemeinde in Berlin zu organisieren.
"Die Geschichten von Waldensern und Hugenotten sind ähnlich. Es sind Geschichten von Verfolgung. Eine Erinnerung, die auch nach Jahrhunderten lebendig bleibt", erzählt Daniela. "Meine Mutter wurde beispielsweise in den 70er Jahren noch diskriminiert. Das änderte sich dann in den 80ern und 90ern, da es immer mehr Misch-Ehen wischen Katholiken und Protestanten gab. Doch die Erinnerung an diese Diskriminierung bleibt, und natürlich macht das auch etwas mit den Menschen. Diese Erinnerungen wollen wir nun teilen und daran erinnern, dass protestantische Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft auch Hoffnung auf Zukunft vermitteln können. Denn Ökumene ist und bleibt wichtig - gerade in diesen Zeiten!"
Mit der Ausstellung "Immagina Riesi – Stell dir vor, wie Riesi sein könnte - Protestantisch auf Sizilien" beteiligt sich die Französische Kirche zu Berlin an der 850-Jahrfeier der Waldenserbewegung. Am 19. Juli findet die Vernissage zur Ausstellung statt, die vom 20. Juli bis 30. August in Berlin zu sehen ist und anschließend in Bonn, Karlsruhe, Basel und Worms gezeigt wird. Der Dokumentarfilm "Una storia valdese" (OmU) des Regisseurs Salvo Cuccia wird in Anwesenheit des Regisseurs am 21. Juli im Kino Babylon gezeigt und ist auch in der Ausstellung zu sehen.