Es ist Sonntag, 9 Uhr in Palermo – ich spaziere durch die menschenleere Stadt. Mein Ziel ist die Chiesa Evangelica Valdese, die Waldenserkirche. Dort treffe ich Pastor Bruno Gabrielli in der Via dello Spezio, versteckt hinter dem berühmten und imposanten Teatro Politeama, liegt die Kirche.
Beim Eintreten kommt mir ein freundlicher Herr entgegen, der sich als Hausmeister vorstellt. Auf die Frage hin, wann denn der Gottesdienst beginne, weist er mich darauf hin, dass dies eine evangelische Kirche sei, keine katholische. Ich versichere ihm, dass mir das bewusst ist - eine Tatsache, die den Hausmeister erstaunt. "Hier in Sizilien gibt es entweder Katholizismus oder Paganismus", erklärt mir Antonio, der Hausmeister. Er selbst war früher Katholik und hat sich dann entschieden, zu konvertieren. Das sei aber eine lange Geschichte, versichert er mir, und macht sich auf den Weg, Pastor Bruno Gabrielli zu suchen.
Während ich warte, schaue ich mich in der Kirche um. Mein Blick fällt auf die Entstehungsgeschichte, die auf einer kleinen Tafel erklärt ist. Das Projekt für den Bau des Waldensertempels in Palermo wurde dem Architekten Emilio Decker anvertraut, während der Auftrag für den Bau an die Firma Bonci & Rutelli vergeben wurde, die bereits 1911-14 den großen Waldensertempel in Rom, gebaut hatte. Das war insofern praktisch, als der Architekt Paolo Bonci und der Ingenieur Emanuele Rutelli mit zwei Schwestern verheiratet waren, die der Waldensergemeinde in Palermo angehörten. Nach zwei Jahren wurde der Waldensertempel am 15. Mai 1927 eingeweiht. Ein einschiffiger Bau, einfach gestaltet, aber einladend.
"Damals war der Bau und die Eröffnung eine Sensation", weiß mir Bruno Gabrielle zu berichten. "Die Gemeinde war zwar immer relativ klein gewesen, aber sehr aktiv", erklärt der Pastor, der seit über 30 Jahren als Waldenser-Pastor tätig ist. Seit einigen Jahren ist er in Sizilien, davor war er in den süditalienischen Städten Brindisi, Taranto und Catanzaro.
"Sizilien ist nochmal etwas ganz anderes", erklärt Gabrielli. "Die Menschen hier sind sehr verschlossen und stehen Fremden skeptisch gegenüber." Und doch hat er eine ganz besondere Bindung zu Sizilien: In den 80er Jahren, als die NATO die Aufstellung von über 100 neuen, mit Atomsprengköpfen bestückten Mittelstreckenraketen in Comiso ankündigte, ging er auf die Barrikaden. Er war damals für den Bund der Evangelischen Kirchen in Italien (FCEI) für den Frieden verantwortlich.
Vom katholischen Glauben zu den Waldensern
Damals in Sizilien hat er mit Paolo Naso zusammengearbeitet. Dem bekannten Gründer von Mediterranean Hope, einem Flüchtlings- und Migrantenprojekt des Bundes der Evangelischen Kirchen in Italien (FCEI), habe er auch seine "vocazione", seine Berufung, zu verdanken, so Bruno Gabrielli. Denn als Kind wurde er katholisch erzogen und erst in seiner Jugend ist er zu den Waldensern übergetreten. Grund: Sein Sitznachbar in der Schule, besagter Paolo Naso eben, mit dem ihn bis heute eine enge Freundschaft verbindet. Paolo Naso, selbst Sohn eines Waldenser-Pastors, habe ihn damals einfach zu sich nach Hause eingeladen, so Gabrielli.
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, Online-Texterin und Marketing-Coach. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
"Ich habe dort ein Ambiente mit offenen, gebildeten und politisch interessierten Menschen kennengelernt. Das war insofern neu für mich, als dass ich aus dem katholischen Muff von zu Hause entfliehen konnte", so Gabrielli. Alles sei transparent besprochen worden, die Meinung anderer wurde toleriert und angehört. "Es gab nichts, wovor man sich verstecken musste." Das hat den heranwachsender Bruno so sehr beeindruckt, dass er sich immer mehr mit der Geschichte der Waldenser und ihrer Verfolgung beschäftigt hat. "Dann hat mich mein Freund Paolo Naso eingeladen, mit ihm den Sommer im Jugendzentrum Adelfia bei Ragusa, in Sizilien zu verbringen", erzählt Gabrielli. Er war beeindruckt von der praktischen Arbeit auf dem Feld, die langen Abenden, an denen gemeinsam diskutiert wurde. Als junger Mann schließlich ist er zu den Waldensern übergetreten, Jahre später wurde er selbst Pastor.
"Ökumene gibt es hier so gut wie gar nicht mehr"
"Nachdem ich zu einem Waldenser wurde, wollte ich erst einmal nichts von Ökumene wissen", erklärte Gabrielli. Das änderte sich aber mit der Zeit. Als er dann nach Sizilien kam, hat er die lange Tradition der ökumenischen Zusammenarbeit fortgeführt, die sich nach dem schweren Erdbeben in den 60er Jahren in Sizilien gefestigt hatte. Die Diakonie unterstützte damals den Auf- und Ausbau eines Zentrums in Palermo. Aus dieser Katastrophenhilfe ist eine langfristige Zusammenarbeit und Partnerschaft erwachsen. Das Stipendienprogramm der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) fördert diesen Austausch, regelmäßige Treffen finden anlässlich des "Runden Tisches" statt.
Einmal jährlich kommen Vertreter:innen der Landeskirchen Baden, Bayern, Hessen und Nassau, Rheinland, Pfalz und Westfalen sowie der Hilfswerke Gustav-Adolf-Werk (GAW), Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS), Kirchen-helfen-Kirchen (KhK) und der GEKE zu einem "Runden Tisch" zusammen. Gabrielli war oft zu den Treffen geladen. "Doch in den vergangenen 15 Jahren hat die ökumenische Zusammenarbeit mit den Vertretern vor Ort nachgelassen", erklärt Gabrielli. "Ökumene gibt es hier so gut wie gar nicht mehr." Grund dafür seien erschwerte Arbeitsbedingungen, es fehle zudem an Nachwuchs innerhalb der Gemeinde, der sich darum kümmern könnte. Die ohnehin kleine Gemeinde sei in den vergangenen Jahren auf knapp 140 Mitglieder geschrumpft.
"Armut - nicht nur bei Flüchtlingen - ist an der Tagesordnung"
"Hinzu kommt auch das wachsende Desinteresse der Bevölkerung", erklärt Bruno Gabrielli. "Früher hatte man Lust am Dialog, man wollte sich mit seinem Nachbarn beschäftigen, ihn kennenlernen und helfen – das ist so gut wie verschwunden." Hinzu käme die desaströse Flüchtlingspolitik. Gerade hier in Sizilien würde man das im Besonderen bemerken: "Jedes Jahr sieht man auf den Straßen immer mehr Einwanderer, die weder eine Wohnung, noch eine Arbeit haben, und oft aus den Flüchtlingslagern rund um Lampedusa flüchten", so Pastor Gabrielli. "Die Armut wächst unaufhörlich, viele Leute schauen einfach weg." Er weiß, wovon er spricht, seine Frau Monica Natali, selbst Diakonin, leitet das Diakonie-Zentrum "La Noce" in einem der ärmsten Viertel Palermos.
Über 90 Prozent der Menschen, die dort Zuflucht suchen, sind Afrikaner. "Viele wissen gar nicht, an wen sie sich wenden sollen, die städtischen Büros sind überlastet und können zum Teil nicht auf die Bedürfnisse eingehen", erklärt Gabrielli. Das fange bei Arbeitsfragen an, über Aufenthaltstiteln bis hin zu gesundheitlichen Fragen. Zudem seien unter den vielen Flüchtlingen viele Kinder und Jugendliche, die alleine reisen. Sie bräuchten neben einem sicheren Zuhause, auch Bildung und oft auch eine besondere Betreuung. "Neben den wachsenden Flüchtlingszahlen ist zu beobachten, dass die Armut generell zunimmt – auch unter den Italienern", erklärt Monica. "Die Zahl der Italiener, die sich das tagtägliche Leben nicht mehr leisten können und sich an das Diakonie-Zentrum wenden, wächst stetig."