Junge im Flüchtlingslager Nuseirat
Marwan Dawood/XinHua/dpa
Kinder leiden besonders nach den Angriffen und Vertreibungen, wie dieser Junge im Flüchtlingslager Nuseirat im Zentrum des Gazastreifens.
Diakonie Katastrophenhilfe
Keßler: Wenn Kriege zunehmen, muss auch die Hilfe wachsen
Der Luftangriff auf Chan Junis im Süden von Gaza hat 400.000 Menschen erneut zur Flucht getrieben. Auf den Bildern aus der Region, sieht man Männer und Frauen mit ihren Kindern, die voller Angst über die Straßen laufen. evangelisch.de Redakteurin Katja Eifler spricht mit Martin Keßler von der Diakonie Katastrophenhilfe über mutige Helfer:innen, humanitäre Zonen und Hilfe, die ankommt.

In dem seit zehn Monaten dauernden Krieg werden immer wieder Unschuldige verletzt und getötet, sei es unmittelbar durch Waffengewalt oder in Folge der stetig anwachsenden humanitären Katastrophe. 

evangelisch.de: Herr Keßler, die Diakonie Katastrophenhilfe kann nicht selbst im Gazastreifen aktiv sein, Hilfe erfolgt, wenn über Partnerorganisationen, die noch Zugang in die Region haben oder vor Ort präsent sind. Können Sie uns die aktuelle Lage aus Ihrer rein menschlichen Sicht schildern?

Keßler: Die Lage ist aus humanitärer Sicht ein Desaster. Seit Monaten gelingt es nicht, die Not tiefgreifend zu lindern. Nur wenige Menschen in Gaza haben genug zu essen und die Gefahr einer Hungersnot ist weiterhin nicht gebannt, solange nicht genug Hilfsgüter nach Gaza gelangen. Das betrifft vor allem Kinder, denn die Bevölkerung in Gaza ist sehr jung. Dort sterben Kinder in diesem Krieg, ebenso wie gerade auf den Golanhöhen. Das schmerzt besonders. Und noch immer sind mehr als 100 Menschen in Geiselhaft, deren Schicksal ungewiss ist. 

Martin Kessler ist Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe.

Gab es die Möglichkeit, mit unmittelbar betroffenen Menschen zu sprechen? 

Keßler: Es gibt eine enge Kommunikation mit den Menschen vor Ort über unsere Partnerorganisationen in Gaza. Unser Büro in Amman koordiniert sich mit unseren Partnern, die täglich mit den betroffenen Menschen in Kontakt sind und ihre Lage sehr genau kennen. Aber sie sind auch selbst betroffen: Büroräume wurden zerstört, fast jeder hat verletzte oder getötete Angehörige zu beklagen und viele von den Helfenden mussten schon mehrfach mit ihren Familien innerhalb des Gazastreifens fliehen. Wenn wir also mit unseren Partnern kommunizieren, sprechen wir nicht nur mit Menschen, die helfen, sondern gleichzeitig mit Menschen, die von dem Krieg schwer gezeichnet sind.

Besteht in absehbarer Zeit die Chance, einen Zugang zu diesen Gebieten zu erhalten?

Die Chance besteht jederzeit. Das hängt von politischen Entscheidungen ab, an denen bisher eine adäquate humanitäre Hilfe und der Zugang zu den Menschen gescheitert ist. Deshalb fordern wir seit Monaten eine humanitäre Waffenruhe und humanitäre Korridore. Grundsätzlich haben wir Zugang zu den meisten Gebieten dank unserer Partner. Das ist enorm wichtig und macht deutlich, wie relevant lokale Akteure sind. Aber wir können sie in der derzeitigen Lage von außen nur eingeschränkt unterstützen. 

Wie lange können die Partnerorganisationen im Gazastreifen aus Ihrer Perspektive noch durchhalten und überhaupt wirksam sein?

Keßler: Die Frage stelle ich mir jeden Tag. Unsere Partner tun alles, um diese Hilfe aufrechtzuerhalten. Dank ihres Durchhaltevermögens haben sie in den letzten 8 Monaten mehr als 80.000 Menschen mit Hilfsgütern helfen können.  

Woran fehlt es aktuell am meisten in Gaza?

Keßler: Die Liste, woran es nicht fehlt, wäre deutlich kürzer. Die Gesundheitsversorgung ist weitgehend zusammengebrochen und es fehlt an Medikamenten. Es kommt nur ein Bruchteil der benötigten Nahrungsmittel nach Gaza. Sauberes Trinkwasser, Abfallentsorgung und natürlich Unterkünfte sind ein riesiges Problem. Und es wird wachsen: Im Herbst kann es auch in Gaza kalt und nass werden. Ein enormer Teil der Häuser und Gebäude sind zerstört. Das wird die Not nochmal vertiefen und den Ausbruch von Krankheiten begünstigen, wenn nicht bald eine Lösung gefunden wird.  

 "Leider kommt es schon seit Beginn dieses Krieges zu massiven Verstößen gegen das Humanitäre Völkerrecht."

Welche Rolle spielen die Angriffe in einer humanitären Zone? 

Keßler: Wenn humanitäre Zonen bestimmt werden, müssen diese von allen Konfliktparteien respektiert werden. Das Völkerrecht setzt dafür den Rahmen und verbietet Angriffe auf solche Zonen und zivile Objekte, sofern diese nicht von einer Seite zum eigenen Vorteil missbraucht werden. Leider kommt es schon seit Beginn dieses Krieges zu massiven Verstößen gegen das Humanitäre Völkerrecht. Die Entführung israelischer und ausländischer Geiseln am 7. Oktober durch die Hamas war nur der Beginn dieser sehr beunruhigenden Entwicklung. 

Aus den Erfahrungen Ihrer Organisation, was macht solch eine Situation mit Menschen vor Ort?

Keßler: Eine Situation wie in Gaza und Israel hinterlässt nicht nur physische Spuren durch Angst, Hunger, Verletzungen oder den Verlust von Lebensgrundlagen. Die psychischen Folgen durch traumatische Erlebnisse und den Verlust von Angehörigen sind enorm. Deshalb hat die psychosoziale Arbeit in einem solchen Kontext eine enorm wichtige Rolle, die jedoch aktuell kaum stattfinden kann, weil es zu gefährlich ist. Hinzu kommen Angst und Hass, die sich steigern und ein friedliches Zusammenleben in Zukunft fast unmöglich machen. 

Welche Bedeutung hat Arbeit im Kontext der Katastrophe?

Keßler: In erster Linie geht es heute ums Überleben der Menschen. Einer geregelten Arbeit kann dort fast niemand mehr nachgehen. Die Lage in Gaza war auch schon vor dem Beginn des Krieges sehr schwierig, weshalb wir schon vorher mit unseren Partnern in Gaza aktiv waren. Wir haben Menschen im landwirtschaftlichen Sektor unterstützt, damit sie von den Ernteerträgen leben und etwas Geld verdienen konnten.

Wie kann die Diakonie Katastrophenhilfe überhaupt noch helfen?

Keßler: Diese genannten landwirtschaftlichen Projekte waren eine Grundlage dafür, dass unsere zwei Partnerorganisationen nach dem 7. Oktober schnell handeln konnten. Sie kauften Nahrungsmittel von lokalen Produzenten in Gaza ein, um es zu verteilen. Sie kontaktierten geprüfte Händler, die ihnen Güter aus ihren Beständen zur Verfügung stellten, als es schon auf den Märkten kaum noch etwas gab. Das machte unsere Hilfe für viele Monate möglich. Nach fast zehn Monaten Krieg ist das deutlich schwieriger geworden und alles hängt von den Einfuhren über die Grenzen ab. 

"Im Vergleich zu anderen großen Katastrophen oder Krisen sind die Spenden für Nothilfe in Gaza leider eher gering."

Sind ausreichend Spendengelder oder staatliche Mittel vorhanden?

Keßler: Im Vergleich zu anderen großen Katastrophen oder Krisen sind die Spenden für Nothilfe in Gaza leider eher gering. Das liegt an der enormen Polarisierung bei dem Thema und dem Misstrauen, ob die Spenden da ankommen, wo sie benötigt werden. Das können wir durch die jahrelange Zusammenarbeit mit unseren Partnern und durch strenge Richtlinien und Prüfprozesse garantieren. Und wir helfen auch in Israel, wo das Gesundheitssystem nach dem 7. Oktober an seine Grenzen gestoßen ist. Betroffene Menschen dort erhalten beispielsweise Medikamente. 

Die Hungerhilfe leidet daran, dass nur die traurigsten Bilder von bedürftigen Kindern einen Effekt beim Spendensammeln erzielen. Wie sehen Sie das, gelingt es noch Menschen zur Hilfe zu bewegen oder haben wir uns hier in Europa an das Leid schlicht gewöhnt? 

Keßler: Wir leben in einer Zeit voller Kriege. 2023 gab es weltweit 59 bewaffnete Konflikte, so viele wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Zugleich erreichen uns immer mehr Bilder von Not und Elend. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass Menschen daran verzweifeln und verzagen. Aber genauso gibt es viele Menschen, die handeln wollen und uns durch ihre Spenden unterstützen. Im vergangenen Jahr haben wir ein starkes Spendenergebnis verbuchen können, weil die Menschen die Notlagen erkennen und begreifen und wir auch gut deutlich machen können, dass unsere Hilfe ankommt und wirkt.  

Hilft Geld?

Keßler: Ja! Viele Projekte und Maßnahmen, die wir aufsetzen, bestehen aus Gutscheinhilfen oder direkten Barmitteln, damit Menschen vor Ort selbst entscheiden können, was sie am dringendsten benötigen. Das gibt ihnen die Freiheit und Flexibilität und stärkt gleichzeitig lokale Märkte, die gerade in Konflikten oft zusammenbrechen.

"Wenn Kriege zunehmen, muss auch solidarisches Handeln und Hilfe zunehmen." 

Was müsste jetzt von uns und den Regierungen am dringlichsten getan werden?

Keßler: Unsere Hilfe steht vor allem auf zwei Säulen: Spenden und öffentliche Mittel. Ich möchte die Menschen bitten, nicht die Hoffnung und den Mut zu verlieren, weil es immer Auswege gibt und verlässliche Hilfe dabei der erste Schritt ist. Wenn Kriege zunehmen, muss auch solidarisches Handeln und Hilfe zunehmen. Dafür braucht es Spenden. An die Bundesregierung appelliere ich, bei der Humanitären Hilfe einen Richtungswechsel einzuschlagen. Die geplanten Etatkürzungen beim Haushaltsentwurf von mehr als 50% sind ein schwerer Schlag für uns und alle, die sich in der humanitären Hilfe engagieren, denn es verkennt die Realität. Die Lage in Gaza ist da leider nur ein katastrophales Beispiel.