Am Anfang standen zwei Beobachtungen: Erstens, in die Stadtbücherei Nürtingen kommen seit einigen Jahren immer mehr Interessierte über 60. "Sie erleben die Bibliothek als einen Ort des Lernens und der Begegnung", sagt Bibliothekarin Katja Seidel. Zweitens, viele Senioren sind einsam. "Meist wohnen die Kinder weit weg. Wenn dann körperliche Beschwerden hinzukommen, nehmen die sozialen Kontakte rasch ab", sagt Monika Petsch. Sie ist Diakonin beim Forum 55Plus des evangelischen Kirchenbezirks Nürtingen.
Und so hatten die beiden Frauen im Sommer 2021 die Idee ältere Menschen zu besuchen, um ihnen vorzulesen. Der griffige Titel: "Besuch mit Buch". Das Konzept: Ehrenamtliche Bücherboten besuchen interessierte ältere Menschen und lesen ihnen vor. Das Interesse spricht für das Angebot. Derzeit sind rund 20 Vorleserinnen regelmäßig in Pflegeheimen, Einrichtungen des Betreuten Wohnens und Privatwohnungen zu Gast, um mit den Menschen dort über ein Buch ins Gespräch zu kommen.
Aller Digitalisierung zum Trotz boomen Bücher. Laut Statista lasen im vergangenen Jahr 8,1 Millionen Deutsche täglich ein Buch, 12,8 Millionen mehrmals wöchentlich und 5,9 Millionen zumindest einmal pro Woche. Am beliebtesten sind einer Umfrage des Marktforschungsinstitut Splendid Research zufolge Krimis, gefolgt von Thrillern und Ratgebern. 2023 setzte der Deutsche Buchhandel rund 9,7 Milliarden Euro um.
Das Buch als Brücke zum Gespräch
Für Monika Petsch sind Bücher vor allem eines: Eine hervorragende Bücke, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. "Für manchen ist es leichter zu sagen, die Augen machten nicht mehr so gut mit, und deshalb lasse man sich etwas vorlesen, als zu sagen: Ich bin einsam", erklärt sie. Aus ihrer Arbeit und Berichten anderer Bücherboten weiß sie, dass viele Senioren vor allem sprechen wollen. Das Vorlesen sei oft nur der Einstieg in ein Gespräch.
Ihre Erfahrungen decken sich mit den Empfehlungen des Netzwerks Vorlesen der Stiftung Lesen in Mainz. "Die reine Vorlesezeit sollte nicht mehr als fünf bis sieben Minuten betragen", heißt es dort. Das klinge wenig. Die Erfahrung zeige aber, dass die Aufnahmebereitschaft gerade unter Senioren in Pflegeheimen danach rapide sinke. Das Vorlesen sei oft eine Art Eisbrecher. Gesprächen im Anschluss sollte hingegen ausreichend Zeit eingeräumt werden. Weitere Tipps des Netzwerks Vorlesen: Die Vorlesestunden sollten nach Möglichkeit zu festen Zeiten stattfinden. Dabei zähle nicht die Häufigkeit, sondern die Regelmäßigkeit. Um nach dem Vorlesen individuell auf die Zuhörer eingehen zu können, empfehlen die Experten eine Gruppengröße von nicht mehr als acht Personen.
Gibt es Klassiker, also Bücher, die immer wieder auf den Wunschlisten der Senioren auftauchen? "Das eine Buch, das alle gern hören, gibt es nicht", sagt Monika Petsch. "Aber bekannte Märchen sind beliebt, Gedichte, gute Kinderbücher, das Amtsblatt oder ein schöner Bildband, den man miteinander anschaut." Auch seien viele der älteren Menschen noch kirchlich sozialisiert, so die Diakonin. Deshalb böten manche Ehrenamtlichen auch an, ihren Gastgebern aus den Psalmen der Bibel vorzulesen, mit ihnen Lieder aus dem Evangelischen Gesangbuch zu singen oder sich mit einem Segenswort zu verabschieden.