Mit 13 Jahren erhielt Annie Heger die Diagnose Diabetes mellitus Typ 1 – eine chronische Krankheit, die in vielen Fällen früher oder später zur Erblindung führen kann. Bis zu ihrem 23. Lebensjahr war Annie 17-mal stationär im Krankenhaus, entwickelte eine Essstörung und eine schwere Depression, fiel am Ende ins Koma. Erst der letzte Krankenhausaufenthalt führte dazu, dass sie heute mit psychischer Kraft und Lösungswegen unterwegs sein kann. Und auch dazu, dass sie den christlichen Glauben als eine der wichtigsten Säulen in ihrem Leben bezeichnet. Leidenschaftlich gerne diskutiert sie über die großen Themen des Lebens: Glaube, Liebe, Hoffnung, Angst, Geborgenheit, Wut, Vertrauen und Schuld – und auch über die wichtige Frage "Was gibt es heute zu essen?"
evangelisch.de: Ich erwische Sie gerade in den USA. Was machen Sie denn da, Frau Heger?
Annie Heger: Ich besuche meine Gastfamilie, bei der ich vor 25 Jahren für ein Jahr Austauschschülerin war. Statt es zu schicken, habe ich mein neues Buch persönlich vorbeigebracht, weil die Familie Teil des Buches ist.
Sie haben in Ihrem Leben einige schwierige Lebensphasen überstanden und sind sogar gestärkt daraus hervorgegangen. Können Sie diese Phasen kurz beschreiben?
Heger: Es gab schwierige Diagnosen, lange Krankenhausaufenthalte, eine unsichere Zukunft dahingehend, was mein Überleben angeht. Ich musste schauen, wie ich durch diese Zeit komme. Es gab zwei Optionen: Entweder daran zerbrechen oder versuchen, das Leben bei den Hörnern zu packen. Zu sagen, irgendwie kommen wir hier durch und wenn wir durchkommen, dann muss aber danach so richtig das Leben gefeiert werden. Ich habe mich immer sehr auf die auf diese Feier danach gefreut.
"Heute kann ich sagen, ich habe mein Bestes gegeben und schaue freundlich auf mich."
Was war denn der Wendepunkt? Wo haben Sie sich entschieden, nicht die Bank auszurauben?
Heger: Ich weiß gar nicht, ob ich schon an diesen Punkt gelangt bin. Der Wendepunkt war ein dreieinhalbmonatiger Aufenthalt im örtlichen Krankenhaus in einer psychosomatischen Klinik, wo man sich gleichzeitig um meine Erkrankungen gekümmert hat und darum, wie ich am besten durch diese Zeit komme. Wie ich mit meiner Zukunftsangst und meiner Ermangelung an Träumen und Wünschen und Zielen umgehe.
Wir können ja nur zukunftsträumen, wenn wir uns um unsere Vergangenheit gekümmert haben und irgendwie gucken, dass wir mit der Gegenwart klarkommen. Es darf ein liebevolles nach hinten geben, da muss man sehr freundlich mit sich sein. Man darf sagen: Okay, ich habe da mein Bestes gegeben und es kann sein, dass es von außen betrachtet vielleicht nicht das Beste war. Ich bin nun mal Diabetikerin und es kommt vor, dass alle anderen Menschen dieser Welt, die keinen Diabetes haben, trotzdem besser zu wissen scheinen, wie ich mit meiner Krankheit hätte umgehen sollen. Heute kann ich sagen, ich habe mein Bestes gegeben und schaue freundlich auf mich.
Warum gibt es da so ein Gap der Außen- und der Innensicht?
Heger: Ich glaube, wir sind mit einem Urteil schnell dabei - vor allen Dingen bei so einer Volkskrankheit, die oft auch faktisch falsch in den Medien dargestellt wird. Zu sagen: Oh, sie schludert, ohne zu wissen, was das eigentlich für eine Anstrengung ist, so eine Erkrankung zu haben, bei der man jeden Tag darauf schauen muss, dass man nicht stirbt. Es geht noch nicht mal darum, dass man jeden Tag überlebt, sondern wirklich aufzupassen, dass man nicht stirbt. Das bringt eine Erschöpfung der Kapazitäten mit sich. Das sehen viele Menschen nicht.
Viele gehen auch davon aus, dass uns allen die gleichen Ressourcen zur Verfügung stehen, psychische Resilienz, aber auch Geld. Es gibt noch eine andere Erkrankungen mit dem gleichen Symptom, die ebenso Diabetes heißt. Es ist aber eine völlig andere Erkrankung und das wird oft in einen Topf geworfen. Ich meine den sogenannten Altersdiabetes Diabetes Typ zwei, Altersdiabetes. Das Symptom ist ein erhöhter Zucker. Diese Erkrankung bekommt man oft durch einen Lebensstilwechsel in den Griff. Bei mir klappt das nicht. Ein anderer Lebensstil kann auf alle Fälle nicht helfen, diese Krankheit zu überwinden. Meine Bauchspeicheldrüse produziert kein Insulin und wird das auch niemals tun. Diese Erkrankung ist nicht heilbar. Wenn ich einen Schokoriegel esse, schauen viele Leute auf mich und urteilen, weil sie sich in einer anderen, in einer erhöhten Position sehen und denken, mehr über diese Erkrankung zu wissen als ich, die ich damit lebe.
Das ist schwierig und anstrengend. Es geht ja nicht nur Ihnen so, das erlebt man bei vielen Themen, dass von außen sehr geurteilt wird. Vielleicht ist das auch etwas ganz Menschliches.
Heger: Auch ich bin davon nicht frei. Wahrscheinlich bin ich davon sogar mit großer Sicherheit nicht frei, auf andere Menschen mit einem ungnädigen Blick zu schauen. Aber ich bemühe mich zumindest, weil ich hier selber so viele Erfahrungen gemacht habe. Ein sehr enger Freund von mir sagte: Vor dir bin ich erst zwei Menschen mit Diabetes begegnet. Einer war mein Lehrer, dem das Bein abgenommen wurde. Und dann noch die Mutter von einer Freundin, die schon Anfang 40 gestorben ist. Da muss ich einmal ganz tief durchatmen und sagen: Ich weiß, dass wir immer sofort alles sagen wollen, was wir wissen. Aber für jemanden, der diese Krankheit hat, ist das schwierig, fast toxisch, immer von diesen worst case zu hören. Ich habe diese Krankheit und du erzählst mir immer nur davon, was schief gelaufen ist. Das habe ich ihm vor kurzem zum ersten Mal gesagt.
Wie hat er reagiert?
Heger: Er sagte: Oh Gott, wenn ich darüber nachdenke, natürlich. Warum habe ich das denn gesagt? Ich bin doch so ein sensibler Mensch. Es kann eben trotzdem sein, dass man sehr sensibel ist, vor allen Dingen mit sich selbst sensibel ist und es trotzdem nicht schafft, mit anderen Menschen in anderen Dimensionen sensibel zu sein.
"Ich habe Essen im Bauch und Sonne auf der Haut. Und auch der Glaube steht auf meiner Liste der Dinge, die mir Kraft geben im Leben."
Wir sind eben oft in unserer Bubble geborgen und auch gefangen.
Heger: Ja, absolut. Wenn wir dann auch noch gesagt wird, dass ich eine gute Diabetikerin bin, denke ich, jetzt wird ja sogar noch eingeteilt in gute und schlechte Diabetiker. Das passiert auch mit dem medizinischen Personal, das mir sagt: Dir wird das oder jenes nicht passieren. Du bist eine gute Diabetikerin.
Was spielt der Glauben bei Ihnen für eine Rolle?
Heger: Es gibt vieles in meinem Leben, das mich nicht nur in schwierigen Zeiten schützt, sondern mich mein ganzes Leben begleitet, wo ich mich gut wohlfühlen kann. Das mein Safe Space ist. Eins davon ist Essen. Essen ist etwas unglaublich Wärmendes und Kraftgebendes und Wunderschönes. Das kann mir den Tag einteilen. Das gibt mir Substanz. Das wärmt mich allein durch physiologische Prozesse wie die Verbrennung. Ganz nah dabei ist auch mein Glaube. Der ist lange Zeit immer mitgelaufen in meinem Leben. Schon im Elternhaus habe ich den nicht großartig hinterfragt. Umso doller musste ich ihn mir später erkämpfen, so dass er mich schützt und präsent ist. Ich habe Essen im Bauch und Sonne auf der Haut. Und auch der Glaube steht auf meiner Liste der Dinge, die mir Kraft geben im Leben.
Warum kam er auf Ihre Liste?
Heger: Es gibt ein paar Momente in meinem Leben, die dazu beigetragen haben. Das sind auch lustige Momente. Zum Beispiel die Sache mit meinem Konfirmationsspruch. Ich bin recht früh mit zwölf konfirmiert worden und habe das Versprechen gegeben, dass ich mich immer weiter auf die Suche nach Glauben machen möchte in meinem Leben. Das geriet dann ins Hintertreffen, weil die Pubertät und der Diabetes kam. Ich war mit vielen Dingen beschäftigt, aber nicht unbedingt mit der Suche nach Glauben. Dann bin ich ein Austauschjahr in die USA gegangen, über den Jahreswechsel 1999/2000. Es gab diese Panik, das beim Jahrtausendwechsel die Welt untergehen wird, ein Blitz in die Welt einschlagen wird und alle unsere Computer crashen. Als alle von zehn bis null runtergezählt haben, habe ich Gott ein Versprechen gegeben: Ich werde nie wieder an deiner Existenz zweifeln, wenn wir das alles überleben. Das ist natürlich großer Schwachsinn, das ist mir auch klar. Aber es war so ein Moment, wo ich dachte, das ist ein guter Deal, wenn dabei das Überleben der Menschheit rausspringt.
Als ich im Krankenhaus war, führte mein Radius genauso weit bis zur Krankenhauskapelle. Tagsüber hatte ich viele Therapien, aber abends war nicht wirklich etwas los. Ich bin immer zur Abendandacht gegangen und es war nicht so, dass mir dort alles geschmeckt hat, was gesagt wurde. Aber ich habe gespürt, dass dort ein Ruheort für mich ist, dass dort ein Ort ist, wo ich Kraft tanken kann, und dass ich das in jeder Kirche finde. Das war nicht der klassische Dreisprung zum Glauben, aber es war auf alle Fälle meiner.
"Ich glaube, Zweifel ist ein guter Freund des Glaubens."
Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Gott beschreiben?
Heger: Die ist richtig gut. Ich fühle mich sehr getragen. Ich fühle mich angenommen, so wie ich bin, egal was mir entgegenweht von Menschen, die meine Vorlieben und meine Art zu leben und zu lieben verteufeln. Das hatte ich gerade erst wieder auf dem CSD in Oldenburg, wo am Rande sehr fundamentale, sich vermeintlich Christ:innen nennende Menschen standen und uns angebrüllt haben, dass wir in die Hölle kommen. Das verletzt mich. Aber es zerstört nicht meine gute Beziehung zu Gott. Ganz im Gegenteil. Meine Beziehung wird dadurch vielleicht sogar noch stärker. Aber es muss uns nicht immer etwas Schlimmes passieren oder wir müssen nicht verteufelt werden, damit wir eine stärkere Gottesbeziehung bekommen.
Gibt es Zweifel in Ihrer Gottesbeziehung?
Heger: Es gibt ihn, ja. Der Zweifel ist so wichtig, weil der Zweifel uns erst dazu bringt, unseren Glauben nicht über den Glauben anderer zu stellen. Ich glaube, Zweifel ist ein guter Freund des Glaubens. Wenn wir nicht am Zweifel zerbrechen, bringt der Zweifel uns am Ende, wenn wir ihn überwunden haben, vielleicht sogar näher zu Gott.
Spüren Sie den Glauben an einer bestimmten Stelle in Ihrem Körper? Wo sitzt Ihr Glaube?
Heger: Das ist eine schöne Frage. Ich spüre in auf meinen Schultern. Er ist ganz leicht. Er lastet nicht schwer auf meinen Schultern, sondern wie zwei Hände, die von hinten auf die Schulter fassen.
Welche Lösungswege haben Sie im Gepäck?
Heger: Wenn es dir so richtig schlecht geht, dann koche dir etwas zu essen. Streite niemals hungrig. Sei freundlich mit dir. Freundlich zu sich selbst sein heißt, sich nicht fertig zu machen, weil man den Ansprüchen anderer nicht genügt.
Das ist ein guter Rat. Ihr Buch "Sei der Wind, nichts das Fähnchen" wurde vor Kurzem veröffentlicht. Wie lange hat es gedauert, das Buch zu schreiben?
Heger: Ich glaube, es ging schneller als andere Menschen Bücher schreiben. Irgendwann habe ich angefangen und dann musste alles raus. Ich habe etwa einen Monat gebraucht.
Schreibblockaden gab es demzufolge nicht.
Heger: Nein, die gab es nicht. Aber der Anfang war das Schwierigste. Ich hatte mir gewünscht, dass es so einen heiligen, feierlichen Moment gibt, wo ich den Laptop aufklappe und beginne. Ich habe immer nach diesem Moment gesucht und dachte jeden Tag, heute ist noch nicht so weit. Dann ging immer mehr Zeit ins Land und mein Verlagschef wurde immer nervöser, weil er keine Texte hatte fürs Lektorieren. Dann habe ich ohne heiligen Moment einfach angefangen. Also keine Angst vor dieser Heiligkeit, einfach loslegen. Es gab ein richtig tolles Ping Pong-Spiel mit meinem Lektor, und wir haben beide sehr viel gelernt. Er musste sehr viele Nächte wach bleiben, weil ich viele Texte nachts geschickt habe.
Wo können wir Sie nun als nächsten sehen?
Heger: Am 19. Juli bin ich in der NDR Talk Show. Wir haben das schon aufgezeichnet. Die große Schauspielerin Erika Pluhar war auch zu Gast. Sie hat mein Buch gelesen und mir heute eine sehr lange E-Mail geschickt. Da sind mir die Tränen in die Augen geschossen.
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