Juergen Deller, Professor fuer Wirtschaftspsychologie an der Leuphana Universitaet Lueneburg
Brinkhoff-Moegenburg/Leuphana
Ältere Arbeitnehmer, die nach ihrer Verrentung zumindest in Teilzeit für ihr Unternehmen weiterarbeiten, können den Fachkräftemangel ausgleichen, meint Professor Jürgen Deller.
Psychologe zu arbeitenden Rentnern
"Silver Worker sind Gewinn für Unternehmen"
Welche Motive treiben über 60-Jährige an, auch im Ruhestand weiterzuarbeiten? Und wie profitieren Arbeitgeber von älteren Mitarbeitern? Diese Fragen beantwortet der Lüneburger Wirtschaftspsychologe Jürgen Deller im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst. Er forscht seit rund 15 Jahren zum Phänomen "Silver Worker".

Der Fachkräftemangel hemmt die Wirtschaft. Ältere Arbeitnehmer, die nach ihrer Verrentung zumindest in Teilzeit für ihr Unternehmen weiterarbeiten, können die Lücke ein wenig kleiner machen. Antworten eines Experten.

epd: Herr Professor Deller, immer mehr Rentenbezieher entscheiden sich dazu, weiter oder wieder zu arbeiten. Welche Motive stecken dahinter?

Jürgen Deller: Es gibt eine ganze Reihe an Motiven. Zunächst einmal hat Arbeit für viele Menschen eine sehr große Bedeutung, weil sie durch Arbeit merken, dass sie etwas verändern und bewirken können. Wertschätzung durch andere ist zudem ein wichtiger Faktor. Außerdem hat man durch den Arbeitsplatz soziale Kontakte. Viele Menschen sind im Alter einsam, besonders wenn sie keinen Ehepartner oder keine Enkelkinder haben. Zudem ist Arbeit ein Taktgeber. Sie strukturiert den Alltag, gibt den Menschen einen Grund aufzustehen.

Gibt es mit Blick auf die Inflation und die aktuelle Wirtschaftslage auch finanzielle Gründe?

"Unser Sozialsystem ist immer noch so gut aufgestellt, dass für vieles im Alter gesorgt ist."

Deller: Ob die Inflation eine treibende Kraft hierbei ist, können wir noch nicht sagen. Für manche spielt Geld sicherlich auch eine Rolle, aber es ist nicht der primäre Faktor. Unser Sozialsystem ist immer noch so gut aufgestellt, dass für vieles im Alter gesorgt ist. Zudem sind die Renten in den letzten Jahren stärker gestiegen als die Löhne. Dass die Leute nur fürs Geld länger arbeiten, stimmt also nicht. Es würde mich jedoch nicht überraschen, wenn im Laufe der Zeit dieser Aspekt wichtiger wird. Das liegt auch daran, dass die geburtenstarken Jahrgänge, die Babyboomer, in den nächsten Jahren in Rente gehen werden und hier auch Geringverdiener dabei sind.

Der Großteil der Menschen aber, die im Rentenalter arbeiten wollen, ist sehr gut ausgebildet. Armut ist also nicht der zentrale, treibende Faktor. Aber es gibt durchaus Rentner, die sich durch Arbeit etwas hinzuverdienen wollen für die ein oder andere Mehrausgabe. Ich denke da beispielsweise an einen Rentner, der mit seiner Enkeltochter eine Kurzreise nach Paris unternehmen wollte und sich das nur durch Mehrarbeit leisten konnte.

Wie können Unternehmen auch im Hinblick auf den bestehenden Fachkräftemangel von älteren Arbeitnehmern profitieren?

Deller: Unternehmen haben vielseitige Vorteile durch den Einsatz von sogenannten Silver Workern. Ältere Mitarbeiter haben vieles erlebt, wie etwa Umstrukturierungen und betriebliche Herausforderungen. Sie sind daher oft resilienter und gelassener als jüngere Mitarbeiter. Außerdem bringen sie viel Erfahrung und Wissen mit. Wenn man dieses Know-how im Unternehmen hält, profitieren davon auch jüngere Mitarbeiter. Ich würde sogar sagen, dass junge und alte Mitarbeiter gegenseitig voneinander lernen können.

Außerdem haben viele Unternehmen - wie Sie bereits sagten - mit Fachkräftemangel zu kämpfen. Wenn man hier auf motivierte, erfahrene Arbeitskräfte zurückgreifen kann, besonders bei einer hohen Auftragslage, ist das ein großer Gewinn für jeden Betrieb.

Was müssen Arbeitgeber tun, um Silver Workern das Arbeiten so einfach wie möglich zu machen?

"Wichtig ist, dass das Unternehmen ein Klima etabliert, das ältere Mitarbeiter wertschätzt und achtet."

Deller: Das ist aktuell unser Forschungsschwerpunkt. Wir haben weltweit in 23 Ländern Projekte, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Dazu haben wir einen Index entwickelt, der das misst, den sogenannten Later Life Workplace Index. In diesem Index beschreiben wir, was ein Arbeitgeber tun muss, um den Arbeitsplatz für Silver Worker so passend wie möglich zu machen.

Wichtig ist, dass das Unternehmen ein Klima etabliert, das ältere Mitarbeiter wertschätzt und achtet. Dafür benötigt es ein altersfreundliches Organisations- und Führungsklima. Es ist wichtig, Arbeitszeiten und -orte zu flexibilisieren, wo das möglich ist. Es muss auch darauf geachtet werden, dass der Arbeitsplatz für Menschen passt, die weniger körperliche Kraft haben.

Was kann man konkret als Führungskraft tun, um ältere Mitarbeiter im Betrieb zu halten?

Deller: Führungskräfte sollten ein bis zwei Jahre vor Eintritt des Ruhestands das Gespräch mit ihrem Mitarbeiter suchen: Was willst du nach Renteneintritt machen? Wie geht es weiter? Welche Pläne hast du? Da gibt es einige Arbeitnehmer, die dem Betrieb erhalten bleiben möchten. Die wenigsten wollen jedoch Vollzeit weiterarbeiten, sondern eher ein bis zwei Tage die Woche.

Andere wollen nur noch einzelne Projekte machen, die sie interessieren, dafür aber dann in Vollzeit, zum Beispiel drei Monate am Stück und dann wieder ein halbes Jahr freihaben. Viele Führungskräfte nutzen diese Chance nicht.

Wieso merken viele erst im Ruhestand, dass sie doch wieder arbeiten möchten?

"Wenn der Ruhestand eintritt, fallen sie durch den Wegfall der Strukturen in ein Loch."

Deller: Viele freuen sich zunächst auf den Ruhestand, wollen Angelegenheiten klären, für die sie in den letzten Jahren keine Zeit hatten, genießen die neu gewonnene Freizeit. Aber wenn dann der Ruhestand eintritt, fallen sie durch den Wegfall der Strukturen in ein Loch und merken dann: Ich möchte doch noch arbeiten, weiterhin ein nützlicher Teil der Gesellschaft sein.

Mit welchen Vorurteilen sehen sich ältere Arbeitnehmer konfrontiert?

"Natürlich gibt es Menschen, die mit 50 oder 60 nicht mehr fit sind, aber andererseits gibt es auch 70-Jährige, die noch gesund und vital sind."

Deller: Körperliche, aber auch geistige Vorurteile. Manche jüngeren Mitarbeiter oder Vorgesetzten befürchten, dass ältere Mitarbeiter nicht mehr so viel leisten können. Doch man sollte sich bewusst machen, dass es sich hierbei wirklich nur um Vorurteile handelt, die einzelne Erfahrungen übergeneralisieren. Natürlich gibt es Menschen, die mit 50 oder 60 nicht mehr fit sind, aber andererseits gibt es auch 70-Jährige, die noch gesund und vital sind. Die Realität ist also viel differenzierter. Unsere Vorurteile spielen uns oft einen Streich.

Gehen Sie davon aus, dass in den nächsten Jahren mehr Silver Worker auf den Arbeitsmarkt treten werden?

Deller: Ja, davon gehen wir aus. Wenn man sich die letzten zehn Jahre anschaut - mit einem kleinen Einbruch während Corona - ist die Zahl der älteren Arbeitnehmer immer weiter gestiegen. Durch den Renteneintritt der Babyboomer wird sich dieser Trend in den kommenden Jahren noch verstärken. Menschen mit hohem Bildungsstand wollen weiterhin gefordert werden, und Unternehmen haben weiterhin Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern. Es profitieren also beide Seiten.

Was kann die Politik tun, um Silver Worker zu unterstützen?

"Ältere Mitarbeiter sind ein Reservoir, aus dem man schöpfen kann. Wenn man das nutzt, entstehen viele Vorteile: mehr Wohlstand, mehr Steuern, mehr Fachkräfte. Davon profitiert die gesamte Gesellschaft."

Deller: Die Politik kann die richtigen Rahmenbedingungen hierfür schaffen, zum Beispiel, indem Arbeit neben der Rente teilweise steuerfrei wird. Wenn die Politik Silver Worker unterstützt, wird dieser Trend noch stärker zunehmen. Das Potenzial ist sowieso schon da. Ältere Mitarbeiter sind ein Reservoir, aus dem man schöpfen kann. Wenn man das nutzt, entstehen viele Vorteile: mehr Wohlstand, mehr Steuern, mehr Fachkräfte. Davon profitiert die gesamte Gesellschaft.

Ein Beispiel: Krankenpfleger Röttinger (66)

Der 66-Jährige Martin Röttinger blieb auch nach seinem Renteneintritt für besonders langjährig Versicherte weiter in seinem Beruf in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Nürnberg tätig.

40 Jahre lang hat Martin Röttinger als Krankenpfleger gearbeitet. Doch auch nach seinem Renteneintritt für besonders langjährig Versicherte im März 2023 blieb der 66-Jährige weiter in seinem Beruf tätig. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Nürnberg arbeitet er nun an zweieinhalb Tagen im Monat als geringfügig Beschäftigter. "Mir macht die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen viel Spaß. Es ist sehr lebhaft", sagt er. Außerdem gefalle ihm das gemeinsame Arbeiten im Team.

Bereits seit 1982 arbeitet der gebürtige Nürnberger auf dieser Station. Hier sind Kinder zwischen sechs und 18 Jahren mit psychischen Problemen untergebracht. "Von ADHS über Essstörungen und Depressionen bis hin zu Persönlichkeitsstörungen ist hier alles vertreten. Das kann sehr herausfordernd sein, aber am Ende bleiben es dennoch Kinder und Jugendliche, die einfach Hilfe brauchen", sagt Röttinger. Nach dem Renteneintritt weiterzuarbeiten, lohne sich für ihn nicht nur finanziell. "Es hilft auch dabei, den Übergang in den Ruhestand zu schaffen. Dadurch ist das weniger abrupt."

Für das Klinikum Nürnberg mit rund 2.800 Beschäftigten im Pflegedienst ist Röttinger eine große Unterstützung. "Es kommt immer wieder vor, dass Arbeitnehmer aus freien Stücken als Rentner weiterarbeiten möchten. Hierfür bietet unser Personalmanagement verschiedene Beschäftigungsmodelle an", sagt Isabel Lauer, Sprecherin der Klinik.

Auch Ulrich Kreßel ist ein "Silver Worker"

Ulrich Kreßel ist seit 1. Mai 2024 im Ruhestand. Eigentlich. Denn der 66-Jährige bleibt seinem Unternehmen erhalten. "Bei uns gibt es die Möglichkeit, ein Jahr lang nach Renteneintritt zwei Tage die Woche weiterzuarbeiten", sagte er dem epd. Der Ingenieur nahm das Angebot an. "Damit ist der Übergang von Vollzeitarbeit zum Ruhestand etwas einfacher. Ich arbeite einfach gerne."

Seit 1998 arbeitet Kreßel bei Mercedes Benz in Sindelfingen. Die Idee, nach Renteneintritt weiterzuarbeiten, kam von ihm selbst. "Das erfolgte in Absprache mit meinem Chef. Ich betreue öffentlich geförderte Projekte. Das lässt sich an zwei Tagen in der Woche gut umsetzen." Was ihm an seiner Arbeit besonders gefalle? "Es ist der Umgang mit den Kollegen und die Aufgaben selbst, die mir Freude bereiten."

Der Begriff Silver Worker ist nicht einheitlich definiert. Manche Experten benutzen den Begriff für Menschen ab 60 Jahren, die bereits in Rente gehen können. Manche Experten definieren Arbeitnehmer ab 55 Jahren als Silver Worker.