Philosophie ist die sinnauslegende und sinnkritische Reflexion menschlicher Praxis und menschlicher Erfahrung. Typische Fragen der Philosophie haben die Form: "Was tun wir eigentlich, wenn wir x tun?" oder "Was meinen wir eigentlich, wenn wir y sagen?" Die Philosophie stellt solche Fragen nicht von einem vermeintlich höheren Standpunkt aus, sondern aus der Mitte des menschlichen Lebens. Sie beansprucht nicht, mehr über die Dinge zu wissen, nach denen sie fragt, als gewöhnliche Leute – nur, genauer darüber nachzudenken. Auf diese Weise entbirgt sie den Sinn, der in unseren Praktiken verkapselt ist.
Wenn die Philosophie nun nach religiöser Praxis und Rede fragt, verfährt sie in eben dieser Weise: Sie fragt nach dem in ihnen enthaltenen Sinn. Dabei geht sie von der menschlichen Praxis aus, nicht von göttlicher Offenbarung. In Bezug auf Letztere muss sie sich für agnostisch erklären, wenn sie Philosophie bleiben will.
Ihr einziges Instrument ist die kritische Vernunft, und diese kann – wie Immanuel Kant überzeugend argumentierte – die Existenz Gottes weder beweisen noch widerlegen. Der Platz zum Glauben beginnt dort, wo das Wissen endet.
Der letzte Grund der Welt überschreitet die Welt
Das bedeutet jedoch nicht, dass Philosophie über den Sinn religiöser Praxis und Rede nichts zu sagen vermag. In gewissen Punkten sind sich die philosophische und die religiöse Erfahrung sehr nah. Beide entspringen einer menschlichen Grunderfahrung: dem Staunen über die Existenz der Welt. Wenn wir über die Unendlichkeit der Welt und unsere Stellung in ihr nachdenken, spüren wir, dass unser Verstehen an Grenzen stößt. Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Diese Frage geht uns auf eine ganz unmittelbare Weise an. Denn auch unser eigenes Dasein, das uns existentiell betrifft, verdankt sich dem Sein der Welt. Wir können nicht anders, als nach dem letzten Grund dieses Seins zu fragen, von dem wir uns abhängig wissen und das wir nicht selbst gesetzt haben.
Zugleich erkennen wir, dass alle Versuche, dieses letzten Grundes habhaft zu werden, vergeblich sein müssen. Denn der letzte Grund der Welt kann nicht wie ein gewöhnlicher Gegenstand irgendwo in der Welt anzutreffen sein. Sonst hätte ja etwas, das Teil der Welt ist, vor der Welt existieren müssen, deren Teil es ist, und das ist ein in sich widersprüchlicher Gedanke.
Der letzte Grund der Welt muss vielmehr transzendent verstanden werden, das bedeutet: die Welt überschreitend, jenseits ihrer Grenzen in Raum und Zeit. Über diese Grenzen hinaus jedoch reichen weder unser Wahrnehmungs- noch unser Denkvermögen. Auch darin sind sich Philosophie und biblischer Glaube einig. Wenn der transzendente Grund der Welt in dieser Welt überhaupt erfahren werden kann, dann nicht als ein Gegenstand, sondern höchstens als Spur, als Aufleuchten eines Aspekts, der sich an oder in gewöhnlichen Gegenständen zeigt – in einem brennenden Dornbusch, im Säuseln eines Windhauchs, im Antlitz eines Menschen.
Von Gott muss in Bildern gesprochen werden
Wollen wir von diesem transzendenten Grund sprechen, geraten wir nun in eine unvermeidliche Paradoxie. Wir sind gezwungen, von dem ganz und gar Jenseitigen mit diesseitigen Mitteln zu sprechen. Die menschliche Vernunft ist eine endliche Vernunft. Unser theoretisches Denken vollzieht sich in Form von Urteilen, in denen ein logisches Subjekt und ein Prädikat so miteinander vermittelt werden, dass das Subjekt (der Gegenstand des Urteils) durch das Prädikat als von einer bestimmten allgemeinen Qualität seiend charakterisiert wird: "X ist so-und-so" oder "Y tut dies-und-das".
Das Transzendente aber ist, wie wir sahen, kein möglicher Gegenstand der Erfahrung oder des Urteilens. Dies ist eine alte Einsicht der reflektierten Gottesrede. Egal wie wir Gott nennen oder auf ihn Bezug nehmen: Allein dadurch, dass wir eine Bezeichnung für Gott an die Stelle des logischen Subjekts eines Aussagesatzes setzen, machen wir ihn, logisch-grammatisch gesehen, zu einem Gegenstand, der er doch konstitutiv nicht sein kann. Ferner werden Subjekt und Prädikat in der logischen Form des Urteils als zwei zumindest dem Begriff nach voneinander unabhängige Größen verstanden: Ding und Eigenschaft. Gott aber kann nicht als ein Einzelding vorgestellt werden, das an bestimmten allgemeinen Qualitäten partizipiert. In einer Weise, die wir mittels der Prädikation gar nicht ausdrücken können, ist er diese Qualitäten selbst. Gott ist nicht mächtig, gütig und weise, Gott ist Macht, Güte und Weisheit.
Daraus folgt, dass unsere gewöhnlichen logischen Urteilsformen und Redeweisen auf das Transzendente gar nicht anwendbar sind. Religiöse Rede von Gott ist daher allein in Bildern, Metaphern, Symbolen und per analogiam möglich. Das in ihr Gesagte darf nie buchstäblich verstanden werden, denn das würde bedeuten, Gott zu einem Ding dieser Welt zu machen. Nicht nur die Philosophie warnt uns davor. Auch die Bibel tut es.
Rede von Gott ist immer unvollständig
Der Versuch, mit diskursiven Mitteln vom Transzendenten zu sprechen, muss daher sein eigenes Scheitern in Kauf nehmen. Wir versuchen, mit endlichen Mitteln das Unendliche, mit relativen Mitteln das Absolute zu erfassen. Religiöse Rede hat daher immer etwas vom Anrennen gegen die Grenzen der Sprache. Sie stellt einen Versuch dar, zu sagen (oder zu denken), was sich doch nicht sagen (oder denken) lässt.
Aus diesem Grund müssen wir uns klar machen, dass jede Rede von Gott, vom Transzendenten überhaupt, unausweichlich das Risiko eingeht, sich in den Netzen unserer sprachlichen und logischen Formen zu verfangen. Wir müssen immer mit der Möglichkeit rechnen, dass wir von der Sache glauben, was in Wahrheit nur in der Form unserer Rede liegt – dass wir die Kontur unseres Denkens für die Kontur dessen halten, was wir gedanklich zu erfassen versuchen.
Aus demselben Grund müssen wir uns eingestehen, dass jede Rede von Gott immer und unausweichlich unabgeschlossen, unvollkommen und vorläufig sein wird. Sie kann Anspruch auf Gültigkeit nur so lange erheben, bis eine weniger schlechte Ausdrucksweise gefunden ist. Wir sind daher aufgefordert, an der kritischen Weiterentwicklung religiöser Denk- und Sprachformen unaufhörlich zu arbeiten. Selbst wenn wir die Grenzen des Ausdrückbaren nie vollständig werden überwinden können, mag es uns doch manchmal gelingen, ein aufschließendes, erlösendes Wort zu finden, das uns für den Moment weiterhilft.
Gott wurde immer schon gegendert
Der Vorschlag, das Wort "Gott" mit einem Genderstern zu schreiben, ist ein Vorschlag mit dem Ziel, unsere religiösen Denk- und Sprachformen in der skizzierten Weise kritisch weiterzuentwickeln. Der Anlass des Vorschlags ist die Vergeschlechtlichung Gottes, die sich beinahe unvermeidlich einstellt, wenn von Gott in den logischen Formen des menschlichen Denkens die Rede ist. Dass es eine solche Vergeschlechtlichung gibt – dass die traditionelle Rede von Gott grammatisch, semantisch und metaphorisch maskulin gegendert ist, in sprachlichen Bildern, in Begriffen wie "Herr", "Vater" und "Sohn", in maskulinen Pronomen, Verbformen und Vokativen – ist unmöglich zu bestreiten.
Die feministische Theologie hat darauf seit Jahrzehnten aufmerksam gemacht und ihrerseits Vorschläge unterbreitet, wie die Gottesrede dieser verzerrenden Vereinseitigung entkommen könnte. Dieser Ansatz wird nun erweitert im Anliegen, Formen der Gottesrede zu entwickeln, die Raum für die ganze Diversität des Geschlechtlichen lassen. Die Schreibweise G*tt ist eine mögliche Form, um diesem Anliegen Rechnung zu tragen.
Wohlgemerkt: Es geht nicht um die Vorstellung, dass Gott selbst ein gender hätte. Das ist eine absurde Vorstellung – ebenso absurd, wie die Vorstellung, dass er einen Daumen oder lockiges Haar hätte. Es geht überhaupt nicht um Gott, sondern um die Rede von Gott. Es geht um das oben herausgestellte Problem, dass die grammatischen und logischen Zwänge, die in der Form unserer Rede liegen, uns dazu verleiten können, vom Gegenstand dieser Rede zu glauben, was nur in der Form der Rede liegt. Insofern zielt der Vorschlag auch nicht darauf, die Rede von Gott zu gendern. Er will vielmehr darauf aufmerksam machen, dass diese Rede immer schon gegendered war, allerdings in einer extrem vereinseitigenden und exkludierenden Weise. Er ruft dazu auf, sich der Frage zu stellen, ob die Formen unserer religiösen Rede in dieser Hinsicht dem, was wir mit dieser Rede auszudrücken versuchen, wirklich gerecht werden. Könnte es nicht sein, dass es sich bei diesen Ausdrucksformen um Bilder handelt, die uns gefangen halten – gefangen in bestimmten anthropomorphisierenden, androzentrischen Bildern von Gott?
Der biblische Text ist menschliches Zeugnis von Gott
Aber steht es denn nicht schlicht geschrieben, dass Gott männlich ist? Selbst wenn dem so wäre – und die Wissenschaft vom Alten Testament zeigt uns, dass es durchaus nicht überall so ist –, wäre dies nicht entscheidend. Dass JHWH, wo die biblischen Texte ihm direkte Rede in den Mund legen, sich selbst in grammatisch maskulinen Formen identifiziert, ist kein Argument. Wenn wir glauben, dass Gott selbst sich gegenüber Patriarchen und Propheten in menschlicher Rede ausgedrückt hat, unterliegt er in dieser Rede denselben verzerrenden grammatischen Zwängen wie seine menschlichen Gegenüber. Und wenn wir das nicht glauben, werden wir in diesen Texten ohnehin nur weitere Beispiele für menschliche Versuche erkennen, von dem zu reden, wovon sich in nicht-verfehlender Weise nicht reden lässt.
Die neuzeitliche Theologie lehrt, dass die kritisch-genetische Interpretation der Heiligen Schrift dem Glauben nicht widerstreitet, sondern ihn zu vertiefen und zu klären vermag – gerade dadurch, dass sie ans Licht bringt, wie alles, was in den biblischen Texten von Gottes Wort und Wirken überliefert ist, menschlicher Bericht, menschliches Zeugnis und menschliche Erzählung ist, unauflöslich geprägt durch das sprachliche, kulturelle und politische Umfeld, in dem diese Menschen lebten. Zu versuchen, das, was von Gott gesagt werden kann, von dem zu unterscheiden, was als solches gar nicht zur Idee des Transzendenten gehört, sondern nur zu diesen kontingenten menschlichen Ausdrucksformen, ist nicht ein Angriff auf eine lebendige Tradition, sondern die einzig vernünftige Weise, diese Tradition fortzuführen.
G*tt mit Genderstern ist Ausdruck eines reflektierenden Glaubens
So laufen meine Überlegungen auf folgende These zu: Der Vorschlag, G*tt mit Genderstern zu schreiben, stellt nicht einen sachfremden, von externen politischen Zielsetzungen oder dem freidrehenden Zeitgeist diktierten Überwältigungsversuch des Glaubens dar. Der Aufruf zu einer internen Kritik von möglicherweise verdinglichenden und verzerrenden religiösen Darstellungs- und Ausdrucksweisen wird dem Glauben nicht von äußeren Mächten aufgezwungen oder im Namen von Werten vorgetragen, die ihm fremd sind. Dieser Aufruf ergeht vielmehr aus dem reflektierten Glauben selbst.
Wir finden eine frühe Ausdrucksform dieser Forderung in der Götzenkritik des Alten Testaments und in den Worten des Dekalogs: Du sollst dir kein Bildnis machen. Der Glaube selbst fordert, das, was menschlich, geschichtlich und vorläufig ist, nicht zu verwechseln mit dem, was transzendent, ewig und vollkommen ist. Er selbst fordert, nicht Gott als Attribut zuzuschreiben, was doch nur Effekt unserer sprachlich, historisch und kulturell gebundenen Versuche ist, von ihm sprechen zu wollen – darunter die Weise, über Gott ausschließlich als Er zu sprechen. Der Glaube selbst gebietet, nicht zu vergessen, dass wir der Idee des Transzendenten sprachlich nie völlig gerecht werden können und daher gehalten sind, die Formen der religiösen Rede immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Es handelt sich nicht um ein Anliegen, das allein eine feministische oder queere Theologie zu interessieren hätte, sondern um eines, das alle betrifft, die versuchen, von Gott zu reden – ob aus der Mitte des Glaubens oder, wie die Philosophie, von der Seitenlinie.
Der Beitrag ist eine Kurzfassung eines Vortrags, gehalten am 28. Mai 2024 im Rahmen der Tillich-Lecture der Universität Frankfurt in der Evangelischen Akademie Frankfurt.