Immer wieder wird ein soziales Pflichtjahr diskutiert. Sollen junge Menschen verpflichtend in etwa zwölf Monate für eine soziale Einrichtung arbeiten – so wie es früher mit dem Zivildienst der Fall war und wie es nun junge Menschen teils freiwillig praktizieren? Siebzig Jahre ist es inzwischen her, dass die Diakonie für ein soziales Jahr warb und das neue Modell schuf, bei christlichen sozialen Einrichtungen ein Jahr der Nächstenliebe zu widmen. Bundespräsident Steinmeier wirbt seit längerem dafür. Vielleicht hat auch er als Christ die Nächstenliebe im Sinn. Jedenfalls argumentiert er, dass die Arbeit bei sozialen Einrichtungen aller Art – einschließlich der Bundeswehr – den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und die praktische Arbeit Spaltungen überwindet. In verschiedenen Umfragen erfährt der Vorschlag viel Zuspruch.
Neben dem sozialen Zusammenhalt könnten auch die Sicherheitspolitik und die Möglichkeit der individuellen Orientierung für die soziale Dienstpflicht sprechen. Doch ein "unfreiwilliges soziales Jahr" bedeutet einen klaren Eingriff in die Rechte der Bürger:innen. Ist der Vorschlag überzeugend? Ich selbst bin skeptisch.
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Sicherheitspolitik
Der Vorschlag des sozialen Dienstjahres spielt auch eine Rolle bei der Stärkung des Wehrdienstes. Der Verteidigungsminister möchte junge Erwachsene verpflichten, sich zur Möglichkeit des Wehrdienstes zu erklären, in der Hoffnung, dass er so die Anzahl der Freiwilligen erhöhen kann (im Sinne einer Pflicht zur freien Wahl). Die CDU dagegen spricht sich für eine Wehrpflicht mit der Möglichkeit des zivilen Ersatzdienstes aus. Der zivile Katastrophenschutz ist zum Beispiel immer stärker gefragt. Ob nun Dienst an der Waffe oder Katastrophenschutz – das Gesamtpaket würde der Sicherheit der Bürger dienen. Das entspricht in etwa dem "nationalen Pflichtdienst", den Macron in Frankreich eingeführt hat. In Großbritannien werben mit so einem Vorschlag auch die Konservativen um die Stimmen der Wähler:innen.
Wenn der aktuelle Vorstoß zur Stärkung der Freiwilligenarmee nicht erfolgreich sein sollte, kommt man zur Vergrößerung der Bundeswehr um das alte Modell der allgemeinen Dienstpflicht wohl nicht herum. Das Grundgesetz (Art. 12) verbietet es nämlich, statt der Allgemeinheit nur einzelne Personen zum Dienst zu verpflichten, wie es etwa in Schweden und Polen geschieht. Eine Wehrpflicht müsste dann mit dem Angebot des zivilen Ersatzdienstes einhergehen.
Die individuelle Perspektive
Zu den Argumenten des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Sicherheitspolitik kommt schließlich noch die Perspektive des Individuums hinzu: Junge Leute können im sozialen Dienst neue Interessen entdecken, die in der Schule nicht gefördert werden, und Kontakte auch außerhalb ihrer angestammten Bubble knüpfen. Der Gesichtspunkt der Entwicklung der Persönlichkeit gehe ansonsten in der allgemeinen Ökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens unter.
Das Engagement, das bereits geschieht
Trotz der drei Argumente – sozialer Zusammenhalt, Sicherheit und individuelle Orientierung – leuchtet mir der Vorschlag einer Dienstpflicht nicht ein. Entscheidend ist, dass bereits jetzt etwa 100.000 Menschen pro Jahr einen der typischen Freiwilligendienste wahrnehmen: das Freiwillige Soziale Jahr, das Freiwillige Ökologische Jahr, den Internationalen Jugendfreiwilligendienst oder den Bundesfreiwilligendienst. Diese enorme Zahl übersehen die Anhänger des Pflichtmodells. Das sind nicht drastisch weniger Menschen als zum letzten Höhepunkt des Zivildienstes 2002, als sich 135.000 Menschen für den gemeinnützigen Ersatzdienst entschieden.
Die Frage lautet: Weshalb sollte sich der gesellschaftliche Zusammenhalt mit etwa 135.000 Dienstlern verbessern, wenn er vermeintlich jetzt so sehr zu wünschen übrig lässt – trotz der 100.000 aktiven Freiwilligen? Das ergibt keinen Sinn. Angesichts des vielfachen Engagements ist der soziale Zusammenhalt doch sehr beachtlich! Mir scheint, das Schlagwort des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist zu nebulös, um damit eine gesellschaftspolitische Maßnahme zu begründen. Alle verbinden etwas mit "sozialem Zusammenhalt", aber nur wenige können klar angeben, was sie eigentlich damit meinen.
Das Preisschild der Dienstpflicht
Zu bedenken ist außerdem, dass eine Steigerung der gemeinnützigen Aktivitäten nur für einen beträchtlichen Preis zu haben ist. Die Positionen, in denen die Freiwilligen schon jetzt ihre Arbeit tun, sind im Laufe der Jahre relativ organisch gewachsen. Mit sinnbefreiten Lückenbüßertätigkeiten können soziale Verbände keine Freiwilligen hinterm Ofen hervorlocken. Mit einem Pflichtjahr dagegen müssten diese Einsatzmöglichkeiten schnell so ausgebaut werden, dass etwa ein zusätzliches Drittel eine sinnvolle Anleitung erhält. Das kostet aber Geld und Ressourcen. Es besteht die Gefahr, dass die zusätzlichen Arbeitskräfte nicht ordentlich angelernt werden. Ohnehin steht nicht fest, ob sie auch mit guter Betreuung die gefragten Tätigkeiten innerhalb eines Jahres sinnvoll erlernen können.
Womöglich werden den Dienstlern außerdem in Gesundheitswesen und Pflege Tätigkeiten auferlegt, für die man eigentlich qualifizierte, erfahrene und ordentlich bezahlte Kräfte benötigt, anstelle von Zwölfmonats-Notnägeln. Von dem Frust, der so entsteht, berichten teils ehemalige Zivildienstleistende. Nötige Reformen im Pflegebereich werden dann aber erst recht auf den Sanktnimmerleinstag verschoben. Was auch immer man unter gesellschaftlichem Zusammenhalt versteht – verbessern wird man ihn so nicht. Auf dem Preisschild eines Pflichtjahres addieren sich Finanzen, Frust und Reformstau, und was man für diesen Preis erhält, ist weniger attraktiv, als es zunächst scheint.
Ein theologisches Argument
Ein theologisches Argument gegen das soziale Dienstjahr, das aus der EKD stammt, verfängt allerdings nur halb. Ein ehemaliger Beauftragter der evangelischen Kirchen für Freiwilligendienste wird mit den Worten zitiert: "Nur Freiwilligkeit hat die Sympathie Gottes." Eine Dienstpflicht dagegen schaffe eine Atmosphäre, in der man seine Aufgaben bloß widerwillig ableistet.
Recht hat diese ältere EKD-Verlautbarung damit, dass Arbeit mit Widerwillen unter rechtlichem Zwang eine Verschwendung von Zeit, Talent und Geld ist. Doch das vollmundige, exklusive Lob der Freiwilligkeit klingt auch nach einer romantischen Verklärung der Spontaneität. Immerhin würden die Pflichtdienstler ein gehöriges Wort bei der Wahl ihrer Tätigkeit mitsprechen können. Man fragt sich auch, weshalb die Kirchen das Argument der allentscheidenden Freiwilligkeit nicht auch in der Vergangenheit gegen die Wehrpflicht und den Ersatzdienst vorgebracht haben. Dagegen ist es auch möglich, dass sich der Appetit erst beim Essen einstellt – dass man also beginnt, sich mit einer Aufgabe zu identifizieren, die man anfangs mit einer ambivalenten Einstellung begonnen hat. Natürlich muss dazu das Gesamtpaket stimmen. Ist das nicht der Fall, dann greift der kritische Hinweis auf die Freiwilligkeit.
Das Identifikationsproblem
Außerdem entsteht weitere Bürokratie, weil eine Zentrale erfassen muss, wer seinen Dienst geleistet hat, und diejenigen anschreibt, bei denen das noch aussteht. In Großbritannien war beinahe das erste, was man am Vorschlag des "nationalen Dienstjahres" diskutierte, die Frage: Wie soll man diejenigen bestrafen, die den Einsatz komplett verweigern? In Umfragen gaben viele an, sie wären zu einem solchen Dienst nicht bereit. Anscheinend identifizieren sie sich nicht mehr mit ihrem Heimatland. Zwar sind die sozialen Verwerfungen in Deutschland weniger drastisch als in Großbritannien, und die Vertrauenskrise dürfte hier nicht so drastisch sein wie dort. Aber Sascha Lobo gibt zu bedenken, dass sich unsere Gesellschaft kaum mit den jüngeren Generationen identifiziert: Sie überlässt ihnen zum Beispiel eine Klimakatastrophe, die nukleare Bedrohung, Staatsverschuldung und eine schlechte Infrastruktur, materiell wie digital.
Taschengeld
Umso bemerkenswerter, wie viele Menschen freiwillige soziale Arbeit leisten. Diese sozialen Dienste werden mit einem Taschengeld anerkannt, das zwischen 300 und 500 Euro monatlich liegt. Das macht es aber für viele nicht möglich, alleine Miete und Lebenshaltungskosten aufzubringen. Bei der freiwilligen Arbeit etwa eine fremde Stadt kennenzulernen, ist für viele kaum möglich. Das Taschengeld sollte erhöht werden, um mehr Menschen die freiwillige Arbeit zu ermöglichen und sie deutlicher wertzuschätzen. Ob die Diakonie hier aus eigener Initiative mit gutem Beispiel vorangehen kann, ist nicht nur eine Frage der Bereitschaft, sondern auch der rechtlichen Möglichkeiten. Sinnvoll wäre es auch, dass der Staat Fahrten mit Nahverkehr und Bahn für die Freiwilligen stärker bezuschusst.
Bundeswehr
Ob man ohne Dienstpflicht genügend Bundeswehrsoldaten findet, bleibt eine offene Frage. Falls nicht, wäre es sinnvoller, in positive Anreize zu investieren, statt zu verpflichten und womöglich zu drohen. Ohnehin wäre eine Wehrpflicht mit weiteren Schwierigkeiten verbunden: Sollte sie auch für Frauen gelten? Im Berufsleben sind sie mit größeren Hürden konfrontiert als Männer, widmen mehr Zeit der Care-Arbeit und erhalten eine geringere Rente. Außerdem könnte eine Wehrpflicht dazu führen, dass wir plötzlich zu viele Soldaten hätten. Manche dann vom Dienst auszunehmen, widerspricht erneut der Wehrgerechtigkeit.
Fazit
Auch wenn ein verpflichtendes soziales Jahr zunächst nach einer sinnvollen Sache klingen mag, überzeugt der Vorschlag nicht. Deutschland sollte nicht in den Aufbau eines verpflichtenden Jahres investieren, sondern das Taschengeld für bestehende Dienste erhöhen und die Bundeswehr attraktiver gestalten. Würde ein verpflichtendes soziales Jahr teils schlecht umgesetzt, kann die positive Stimmung gegenüber dem ehrenamtlichen Einsatz kippen und die bestehende Kultur des freiwilligen Engagements könnte beschädigt werden. In der Hoffnung, eine gute Sache noch zu steigern, könnte man sie so verderben.