Nachhaltigkeit wird in Europa und in Deutschland großgeschrieben. Es steht auf Plakaten und kommt in Werbespots und auf Produktverpackungen vor. Es ist fast unmöglich, an dem Begriff vorbeizukommen. Sie ist etwas Gutes. Sie wird angestrebt. Viele (ich übrigens auch) halten Bildungsvorträge, Workshops oder Seminare dazu. Wir erklären, wie wichtig es ist, nachhaltig zu leben, allein aus moralischen Gründen, aus christlicher oder religiöser Überzeugung, die eine:n dazu bewegen, bewusster zu leben und/oder für Gerechtigkeit einzustehen, für diese und die nächste Generation.
Gesellschaften, die mehr an Profit und Wachstum orientiert sind, sehen Nachhaltigkeit häufig als Wirtschaftsbremse. Diese Sorge kommt oft in Gesprächen hoch. Aber: Heißt Nachhaltigkeit nicht auch Sicherung der Lebens- und Produktionsgrundlagen? Wie kann eine Wirtschaft in einer kaputten Welt funktionieren? Neue Studien besagen, dass der wirtschaftliche Schaden durch den Klimawandel sich allein in Deutschland auf mehr als 280 Milliarden Euro belaufen könnte. Keine Frage: Nachhaltigkeit und Wirtschaft gehören eindeutig zusammen. Die Frage muss vielmehr lauten: Will man ein kurzes und schnelles Wachstum bis zum Kipppunkt oder eine langhaltende Kreislaufwirtschaft?
Nachhaltigkeit oder Wirtschaft?
In unserer Bildungsarbeit erklären wir beständig, wie unfair und ungerecht es ist, unbedacht zu konsumieren und mehr CO2 in die Luft zu jagen als nötig, und damit den Klimawandel weiter zu befördern, der wiederum Menschen bedroht, die wenig zu ihm beitragen. Das ist schlimm! Das ist unfair! – Da gibt es überhaupt nichts zu deuteln. "Aber was können wir tun? Wie können wir den armen Menschen dort helfen", wird oft gefragt. Einfache Antwort: Blast kein CO2 mehr in die Luft. Okay, ganz so einfach geht es nicht. Die Sache ist viel komplizierter und muss besprochen und gut abgewogen werden, damit es am Ende richtig funktioniert. Es muss einen Plan geben, Sitzungen, ein Zeitraum muss gesetzt werden.
Sitzungen gab es immerhin schon viele. Seit 1970, als der Begriff "Nachhaltigkeit" in der Umweltpolitik seinen Weg fand, werden Pläne und Maßnahmen entworfen, wie Nachhaltigkeit umgesetzt oder erreicht werden soll. Seitdem haben viele Konferenzen und Gipfeltreffen stattgefunden. 1992 der Umweltgipfel in Rio, 1997 kam das Kyoto-Protokoll, 2009 die gescheiterte Klimakonferenz Kopenhagen und 2018 das seinerzeit gefeierte Abkommen von Paris. Um nur die bekanntesten zu nennen. Seit 1995 findet – mit Ausnahme von 2020 – jährlich eine Klimakonferenz (COP/Conference of the parties) statt. Es gibt mehr oder weniger brillante Pläne, Maßnahmen, Abkommen und viele gefeierte finanzielle Verpflichtungen. Aber wo bleibt die Umsetzung? Wann ist die Zeit?
Globale und nationale Zusammenhänge herausfinden
"Leave no one behind" – "niemanden zurücklassen" ist das Motto der Agenda 2030. Einer Agenda, die nicht nur zeigt, wo globale Probleme liegen, sondern auch wie jedes Land anfangen kann, an diesen zu arbeiten. Es wird dazu aufgerufen, dass alle mitmachen, um die 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung bis zum Jahr 2030 zu erreichen. Ich persönlich bin immer noch begeistert von diesem Plan, der in 17 Zielen formuliert ist und soziale Themen ebenso beinhaltet wie Umwelt- und Wirtschaftsthemen, und auch aufzeigt, wie sie miteinander in Verbindung stehen. Zum ersten Mal wurde in einer Agenda die Wirtschaft als Teil des Problems angesprochen. Und zum ersten Mal wurden auch Industrienationen aufgefordert, auch vor ihrer eigenen Tür zu kehren und nachzuforschen, wo die Probleme im eigenen Land und im eigenen Handeln liegen, und wie sie verknüpft sind mit globalen Herausforderungen.
Ein bekanntes Sprichwort aus "Afrika" sagt: Wenn ein Finger auf dich zeigt, zeigen drei Finger zurück. Ich stelle immer wieder fest, dass es ein schwieriger Perspektivwechsel für den Globalen Norden sein muss, wenn andere Finger auf ihn zeigen und Gerechtigkeit verlangen. Vom Norden, der sich selbst eigentlich immer als gutes Beispiel betrachtet, und von dem andere Länder – vor allem aus dem Globalen Süden – etwas lernen können. Doch wenn die Schwierigkeiten dieses Perspektivwechsels zum Abwarten oder gar zur Verlagerung von Problemen führen, wird es gefährlich.
Die Angst und Sorge um oder vor Nachhaltigkeit
Je mehr der Begriff "Nachhaltigkeit" gefeiert wird, desto mehr wird er auch gefürchtet, wenn er tatsächlich gelebt werden soll. Wenn Nachhaltigkeit zu ernst wird, also konkrete Veränderungen anspricht, und wenn diese Veränderung auch nur ein bisschen Verzicht vom reichen Globalen Nordern fordern, dann wird es sofort "schwierig". Nachhaltigkeit wird dann mit Verlust und Angst gleichgesetzt.
Ich bin noch dabei herauszufinden, welche Angst damit verbunden ist. Eine Angst, die größer ist als die Lebensmittelknappheit, die durch Dürre, Unwetter und schlechte Ernten entstanden ist? Eine Angst, die größer ist, als keine Ressourcen mehr zu haben für das Leben oder notwendige Technik. Eine Angst, die größer ist als ausbrechende Pandemien, die Arbeit lahmlegen, das Wirtschaftsleben bremsen, das soziale Leben einschränken und täglich Tote fordern?
Interessant ist: In der Zeit der Corona-Pandemie war die Mehrheit bereit, ihr Leben umzustellen. Man sprach von einem "neuen Normal". Das war aber auch nur möglich, weil die Politik es für dringend notwendig hielt und durchsetzte. Die Probleme liegen aber meist nicht bei den einzelnen Menschen. Ich habe den Eindruck, dass die Mehrheit gerne nachhaltig leben möchte aus vielen Gründen, unter anderem auch wegen physischer und mentaler Gesundheit.
Ist Nachhaltigkeit eine bittere Pille?
Doch wenn die Rahmenbedingungen ein "Anders-Leben" nicht ermöglichen und ernsthafte Versuche immer wieder an Grenzen stoßen und scheitern, geben viele frustriert auf und fügen sich ins vermeintlich Unvermeidliche. Die andere Seite der Medaille: Wenn die Politik ihre Verantwortung nicht übernimmt, sondern relativiert und verlagert und notwendige Entscheidungen nicht trifft oder wenigstens verzögert, wird sie unglaubwürdig – perfekter Nährboden für Fake News und Verschwörungstheorien, die den Ernst der Lage relativieren.
Nachhaltigkeit scheint eine bittere Pille zu sein. Keiner möchte sie gerne sofort schlucken. Man lässt sie lieber noch in der Hand liegen, schaut zur*m Nachbar:in, ob er/sie diese Pille schluckt oder sie auch noch in der Hand hält. Und sollte jemand anderes sie schlucken, wird doch nochmal lieber gewartet oder abgewogen, ob es nicht schon reicht und eigentlich jetzt alles gut ist. Vielleicht reicht es ja schon für alle, was wenige getan haben?
Eines ist sicher: Die Symptome sind da. Die Mittel dagegen sind bekannt. Die Frage ist: Schauen wir uns weiter gegenseitig an und warten, wer den ersten Schritt macht? Oder handeln wir endlich konsequent – jede:r für sich und alle zusammen?
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