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17. Juni, 3sat, 22.25 Uhr
TV-Tipp: "Siehst du mich"
Womöglich war es ganz anders, aber die Vermutung drängt sich auf: Als Caroline Genreith vom "Girl Gang"-Projekt der Schweizer Regisseurin Susanne Regina Meures hörte, bekam sie einen echten Schreck.

Die Kollegin arbeitete schon seit geraumer Zeit an einem Kinofilm über Leonie, eine junge Frau, die zu Beginn der Dreharbeiten 13 war und sich im Verlauf der nächsten Jahre unter dem Namen "Leoobalys" zum Internet-Star mit 1,5 Millionen Followern entwickelte. Meures’ unkommentierte Langzeitdokumentation schildert schonungslos, welchen Preis Leonie für ihren Erfolg zahlt: Sie muss ständig neue Videos produzieren, weil ihre Fans auf Schritt und Tritt über ihr Leben informiert sein wollen.

Was das mit Genreith zu tun hat? Ihr Film "Siehst du mich" wirkt, als habe sie ein ganz ähnliches Werk im Sinn gehabt, sich dann aber ein neues Konzept ausdenken müssen. Auch sie schildert den Werdegang eines jungen Mädchens über mehrere Jahre hinweg: Zu Beginn lädt die pausbäckige elfjährige Emilia stolz zur "Room-Tour" (mein Bett, mein Schrank, mein Badezimmer), einige Jahre später muss die Mutter darauf achten, dass sie im Urlaub nicht im Bikini posiert. Als schließlich das Abitur in Sichtweite ist, beendet Emilia ihre Internet-Aktivitäten; Schule ist wichtiger, außerdem hat sie den Spaß verloren.

Die Parallelen zu "Girl Gang" sind offenkundig, auch wenn Genreith nicht dessen Tiefe erreicht, weil sie sich auf Momentaufnahmen beschränkt. Aber die Autorin hatte ohnehin etwas anderes im Sinn, wie zumindest die SWR-Ankündigung zur ARD-Premiere im letzten Jahr nahelegt: Sie wollte "den Klischees der Generation Z auf den Grund" gehen, und deshalb ist Emilia nur eine von vieren. Die anderen sind Natasha Kimberly sowie die einst als "Lochis" zu Internet-Ruhm gekommenen Zwillinge Heiko und Roman Lochmann. Die Journalistin, Moderatorin, Influencerin und Entertainerin Kimberly ist die mit Abstand faszinierendste Persönlichkeit dieses mit neunzig Minuten allerdings etwas zu langen Films.

Auf der Ebene mit den Brüdern verfehlt der Film zudem sein Thema. Die beiden jungen Männer sind Jahrgang 1999. Das macht sie einerseits zu perfekten Repräsentanten der mittlerweile erwachsen gewordenen Generation Z, auch wenn manche Eltern "erwachsen" vermutlich in Anführungszeichen setzen würden. Andererseits haben sie ihre einstige Internet-Karriere hinter sich gelassen. Heiko und Roman nennen sich nun "He/Ro" und machen Musik, die im Vergleich zur ihren einstigen Kinderliedern ernstzunehmend klingen soll. Von der Zusammenarbeit mit Genreith haben sie sich vermutlich einen gewissen Promotionseffekt erhofft. Die Szenen mit den großen Jungs wirken jedoch wie die Dokumentation einer Albumveröffentlichung, inklusive Vorbereitung, Release-Party und erstem öffentlichen Auftritt. Natürlich spielt auch das Internet dabei eine Rolle, weil sie PR-Videos für TikTok drehen.

Heutigen Großeltern ist vermutlich schleierhaft, warum ihre Enkelkinder den ganzen Tag auf ihr Smartphone starren. Für diese Seite des Phänomens interessiert sich Genreith leider überhaupt nicht. Stattdessen wollte sie laut SWR-Pressetext einer anderen Frage nachgehen: "Ganz normale Jugendliche können durch Instagram, Tiktok und Co. von heute auf morgen berühmt werden. Kann das also jeder?" Die Anschlussfrage müsste demnach lauten: Was sind das eigentlich für Leute, denen die Jugendlichen "folgen", als strebten sie wie einst die Jünger einem Heiland hinterher? Auch das bleibt offen; von Emilia wollte Genreith nicht mal wissen, welche Rolle das Motiv Geld für sie spielt. Weil die Autorin ohne Kommentar oder Sachverständige auskommt, gibt es zudem keine Erklärung, warum die digitale Gemeinde anderen beim Leben zuschaut, während das eigene vernachlässigt wird. Als sich Genreith gegen Ende im Gespräch mit den Lochmanns fragt, was denn wohl die Botschaft ihres Films sei und ob digitale Medien nun gut oder schlecht seien, sagt Heiko sinngemäß, das sei doch völlig irrelevant.

Am spannendsten sind Kimberlys Ausführungen zum Hass im Netz. Weil sie solche Kommentare auf witzige Weise aufspießt, steht sie bei TikTok unter Beobachtung: wegen angeblichen Mobbings. Das ist ebenso grotesk wie Genreiths Präsentation dieser Videos, die nicht etwa in Bildschirmgröße zu sehen sind: Kimberly hält ihr Smartphone in die Kamera. Laut SWR versucht Genreith, "Social Media als popkulturelles Werkzeug zu begreifen." Dieser Ankündigung wird "Siehst du mich" nur einmal gerecht, und dann auch bloß indirekt, als der PR-Slogan von Kimberlys Agentur zu sehen ist. "We turn hype into cashflow": Wir machen deinen Ruhm zu Geld.