Auch "Der letzte Bissen" erzählt eine Geschichte, die ganz und gar in dieser Gegend verankert ist, denn der heimliche Held ist eine authentische Figur: Karl Stülpner (1762 bis 1841), Wilderer, Schmuggler und Lebenskünstler, gilt als Robin Hood des Erzgebirges. In der vierten Episode der Reihe treibt dieser Rächer der Entrechteten offenbar wieder sein Wesen: Ein berüchtigter Richter ist mit einem Vorderladergewehr erschossen worden. In seinem Mund findet sich ein Zweig, auf den sich auch der Titel bezieht: Der titelgebende "letzte Bissen" ist ein Waidmannsbrauch. Kurz drauf stirbt der Jagdgefährte des Richters, ein vielfach verklagter Landwirt, der bislang jeden Prozess unbeschadet überstanden hat, weil sein Freund für die nötigen Freisprüche sorgte. Als sich dann auch noch Menschen, denen bitteres Unrecht widerfahren ist, mit freundlichen Grüßen vom "Stülpner Karl" über einen unerwarteten Geldsegen freuen können, kann es keinen Zweifel mehr geben: Die Legende lebt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
In diesem historischen Hintergrund liegt der eigentliche Reiz der Geschichte. Ansonsten entspricht sie weitgehend den gängigen Krimikonventionen, aber das stört nicht weiter, zumal die Inszenierung Ulrich Zrinners, der auch die ersten beiden Filme gedreht hat, sichtbar um optische Abwechslung bemüht ist. Die Kamera (Wolf Siegelmann) ist viel in Bewegung, wenn auch auf sehr sanfte Weise, wählt hin und wieder mal eine ausgefallene Perspektive und weidet sich natürlich in Form diverser Luftbilder an der Schönheit der Landschaft. "Der letzte Bissen" fällt zudem schon allein wegen der vielen Außenaufnahmen aus dem Rahmen. Zu den besonderen Schauplätzen des Films zählen die bizarren Felsformationen der Teufelssteine im Steinbachtal sowie die Naturbühne Greifensteine.
Auch das Ensemble ist namhafter als in vielen anderen Reihenkrimis: Thomas Sarbacher verkörpert den nach der "Wende" aus dem Westen eingewanderten schurkischen Großgrundbesitzer Huber, der seine Angestellten ausbeutet und seine attraktive ungarische Frau (Andrea Osvárt) als Dekoration betrachtet, raumgreifend als selbstherrlichen Patriarchen von altem Schrot und Korn und daher wie ein Fossil aus längst vergangenen Zeiten. Nicht minder gut besetzt ist die Rolle von Bio-Imker Beer, der Ärger mit dem Bauern hatte, weil der einen freigiebigen Umgang mit Pestiziden und Herbiziden pflegte; ein Umstand, unter dem nicht nur Beers Bienen, sondern auch Hubers polnische Arbeiter zu leiden hatten. Gäbe es nur den Zwist zwischen dem zornigen Imker und dem Bauer, wäre die Rolle mit Kai Schumann überbesetzt, aber es bahnt sich auch eine Beziehung zwischen Beer und Saskia Bergelt (Teresa Weißbach) an. Das ist durchaus heikel, denn die Försterin pflegt Hauptkommissar Winkler (Kai Scheve) nicht nur wegen ihrer Freude am Kriminalisieren zu unterstützen. Sie stürzt daher prompt in ein Loyalitätsdilemma, als Beer aufgrund von Bienenkot auf einem Kleidungsstück den Kreis der Verdächtigen erweitert. Zu denen gehört alsbald auch Lehrer Reissmann (Stephan Großmann), der in seiner Freizeit ein Theaterstück über Stülpner probt. Die Besetzung trägt einen weiteren Teil zur Verwurzeltheit des Films in der Region bei: Schumann und Grossmann sind zwar nicht wie Weißbach im Erzgebirge aufgewachsen, aber immerhin beide gebürtige Dresdener.
Neben den prominenten Gästen verblasst das Kern-Ensemble etwas. Wenigstens darf sich Lara Mandoki als Karina Szabo einige sympathische Dialogduelle mit der Rechtsmedizinerin (Adina Vetter) liefern. Weil die selbstbewusste Kriminalkommissarin (wie Mandoki auch) ungarische Wurzeln hat, gelingt es ihr, einen engen Draht zu Witwe Huber entwickeln. Sehr moderat setzen Ard (alias Jürgen Pomorin) und Jahreis (auch Produktion) zudem die horizontale Ebene fort. Der Krimi ist eine Wiederholung aus dem Jahr 2021, damals suchte Winkler immer noch nach der Wahrheit über den tödlichen Autounfall seiner Jugendliebe; nun erhält er neue Hinweise. Sein Schlusssatz klingt wie eine Devise Stülpners und verspricht eine brisante Fortsetzung: "Vor den Mächtigen darf man nicht kuschen."