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16. Juni, Arte, 23.20 Uhr
TV-Tipp: "Leben mit Bach – Musikalische Weltreise"
Musik ist nicht alles, aber ohne Musik ist alles nichts: Für ihren Dokumentarfilm "Living Bach" ist Anna Schmidt ein Jahr lang kreuz und quer durch die Welt gereist, um Menschen zu besuchen, auf deren Dasein die Arbeit Johann Sebastian Bachs einen derart erheblichen Einfluss hatte, dass sie ihr Leben verändert hat.

Aus diesen Begegnungen schöpft der trotz einer Dauer von knapp zwei Stunden ungemein kurzweilige Film eine enorme positive Kraft. Es ist daher umso bedauerlicher, dass ausgerechnet der Kulturkanal Arte unter dem Titel "Leben mit Bach" bloß eine erheblich gekürzte Version zeigt; und das auch erst um 23.20 Uhr.

Faszinierend sind jedoch nach wie vor die völlig verschiedenen Biografien: Es handelt sich größtenteils um Männer und Frauen, die Musik nicht als Profession, sondern aus Passion betreiben, dabei aber eine imposante Qualität entwickelt haben. Noch beeindruckender als die Hingabe, mit der sie das Vermächtnis des großen Thüringers pflegen, sind ihre Erklärungen für das Phänomen, das die Grundlage des Films darstellt. Bach war ein protestantischer Kirchenmusiker, weshalb es umso bemerkenswerter ist, dass seine von beinahe inbrünstiger Spiritualität erfüllten Werke über alle kulturellen, weltanschaulichen und vor allem religiösen Grenzen hinweg Brücken bauen.

Schmidt war in Nord- und Südamerika, in Südafrika, Australien und Asien. Gerade die gänzlich unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründe und die daraus resultierende Vielfalt machen einen großen Reiz des Films aus: Zu den Mitwirkenden gehören unter anderem eine Palliativkrankenschwester aus Bethlehem in Pennsylvania, ein Sänger und Musiker aus Paraguay, ein IT-Techniker aus Soweto, eine Lehrerin aus Canberra, eine Cafébesitzerin aus Malaysia und eine Apothekerin sowie ein Tempelmönch aus Japan. Ihre Wege zur Musik Bachs waren jeweils gänzlich andere, aber alle eint die Überzeugung, dass seine Kompositionen Hoffnung verbreiten und zur Solidarität anregen.

Interessant ist auch die Entstehungsgeschichte des Films. Als die Regisseurin hörte, dass zum Leipziger Bachfest einige Dutzend Bach-Formationen aus aller Welt eingeladen werden sollten, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass es im Ausland über dreihundert größtenteils von Laien betriebene Chöre und Ensembles gibt. Um zu ergründen, was sie an Bach fasziniert, hat die Regisseurin einige von ihnen besucht und dabei gemeinsam mit Kameramann Axel Schneppat insgesamt 160 Stunden Filmmaterial gesammelt. Die größte Herausforderung dürfte anschließend darin bestanden haben, aus diesem enormen Konvolut ein schlüssiges Konzept zu destillieren. Schmidt ist selbst Musikerin, Bach begleitet sie seit ihrer Jugend. Sie hat nicht nur Journalismus und Film, sondern auch Musikwissenschaft studiert. Als dramaturgische Struktur schwebte ihr eine Fuge vor, was Bach gewiss erfreut hätte, schließlich ist sein "Wohltemperiertes Klavier" eines der bekanntesten Beispiele für dieses musikalische Prinzip, bei dem ein Thema von mehreren Stimmen wiederholt wird. Der Film ist daher nicht in Kapitel untergeteilt, die sich nacheinander mit den Beteiligten beschäftigen, sondern hüpft vielmehr behände zwischen den einzelnen Erzählsträngen hin und her, wobei die Männer und Frauen jeweils andere Schauplätze aufsuchen.

Mit der Australierin Bianca zum Beispiel hat Schmidt den Ort Hermannsburg im Northern Territory besucht. Hier haben die Ureinwohner Bach vor 140 Jahren durch Missionare kennengelernt. Anders als erwartet geht es nun jedoch nicht um postkolonialistische Kritik, wie sie später Thabang aus Kapstadt vorbringen wird. Die Aborigines äußern sich im Gegenteil sehr freundlich über die Deutschen, die die Kultur ihrer Vorfahren respektiert hätten; und dann singt ein fünfköpfiger Chor mitten im australischen Nirgendwo eine Bach-Kantate. Anschließend ergötzt sich der Film fast schon kontemplativ an landschaftlichen Impressionen, um mit dem Wechsel nach Soweto, wo es laut und fröhlich zugeht, einen abrupten Kontrapunkt zu setzen.

Die weltweite Liebe gerade zu den dreihundert Jahre alten Chorälen ist umso eindrucksvoller, als Bach nicht nur musikalisch, sondern natürlich auch sprachlich eine echte Herausforderung darstellt; umso bewundernswerter ist der Enthusiasmus, mit dem die Beteiligten ihrer Leidenschaft frönen. Auch deshalb ist der vorzüglich geschnittene Film das Werk geworden, das Schmidt vorschwebte: "Living Bach", hofft sie, werde die Herzen ansprechen und eine lebensbejahende Energie versprühen. Das ist rundum gelungen, zumal die Dramaturgie wie die vielstimmige Fuge am Ende in ein Finale mündet, bei dem sich alle Beteiligten in Leipzig treffen, wo sie erst an verschiedenen Orten musizieren und schließlich gemeinsam in der Thomaskirche auftreten.