Die Welt der Musik erschließt sich Gehörlosen über Zeichen. Liedtexte werden gebärdet, die Stimmung des Musikstücks durch Mimik und Gestik übertragen. Zur "Freude" gehört ein lachendes Gesicht, zum "Schmerz" ein trauriges. "Welt" wird mit zwei Fingern übersetzt, die einen Kreis in die Luft zeichnen. Für die "Liebe" werden beide Hände über der Brust gekreuzt. Beim Applaus gehen alle Arme nach oben und werden geschüttelt. Ein Ensemble, das die visuelle Sprache beherrscht, ist "Sing & Sign" (Singen und Gebärden). Es hat sich zum Ziel gesetzt, Musik inklusiv aufzuführen und zu erleben. Zum Auftakt des Leipziger Bachfests wird am Freitag um 21 Uhr auf dem Marktplatz die Johannespassion von Johann Sebastian Bach als barrierefreies und inklusives Gesamtkunstwerk aufgeführt.
Die 2017 in Leipzig gegründete Formation dürfte zumindest im Bereich der klassischen Musik einmalig in Deutschland sein. Beim Leipziger Bachfest bringt sie am Freitag die Johannespassion auf die Bühne. Der Gründerin und Leiterin des Ensembles, Susanne Haupt, ist es wichtig, dass Hörende und hörbehinderte Menschen gemeinsam agieren. "Die Vorstellung, dass wir musizieren und die Hörgeschädigten neben uns gebärden, ist für mich ein Bild der Trennung", sagt sie. Sie will einen Austausch zwischen der Musikkultur und der Gehörlosenkultur.
Das Projekt sei ein großer Gewinn, weil beide Kulturen einen Perspektivwechsel erlebten. Dies ermögliche eine "neue Sicht auf dieselben Dinge aus verschiedenen Richtungen". Gerade in der klassischen Musik fehle es oft an Teilhabe. "Wir versuchen, Barrieren abzubauen und einander zu verstehen", sagt Haupt. Gehörlose Menschen erlebten oft Diskriminierung, bekämen kaum eine Bühne. Auch darauf wolle "Sing & Sign" aufmerksam machen.
Zum Ensemble gehören inzwischen knapp 30 hörende und hörbehinderte Mitglieder, aber auch sehbehinderte, lernbehinderte und gehbehinderte Menschen. Sie übersetzen musikalische Werke in eine Sprache für Gehörlose, vor allem die Musik von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Neben der Deutschen Gebärdensprache (DGS), bei der Text eins zu eins übertragen wird, nutzen sie auch sogenannte lautsprachbegleitende Gebärden. Außerdem beherrschen einige von ihnen die Kunst der sogenannten Deaf Performance, bei der Gehörlose Musik in einer freieren Form darbieten. Diese Interpretation ist quasi Gebärdenpoesie. Bei Bachs Johannespassion wird sie für Arien und Choräle genutzt.
Andrea Schmetzstorff ist seit mehreren Jahren engagiertes Ensemblemitglied und Gebärdensolistin. Bei der Open-Air-Aufführung zum Leipziger Bachfest übernimmt sie den Part der Evangelistin. Die 30-Jährige kann mithilfe eines Cochlea-Implantats hören. Das Ensemble sei für sie Familie, Hobby und Spaß zugleich. Ohne "Sing & Sign" würde ihr etwas fehlen, es sei ein Stück zu Hause, auch vor großen Auftritten. Ein "bisschen Panik" habe sie schon, erzählt sie. Denn sie gebärde in der Aufführung, was der Tenor Andrew Irwin als Evangelist singt. Bachfest-Intendant Michael Maul begrüßt das Projekt: Die inklusive Aufführung der Johannespassion auf dem Leipziger Marktplatz ist "das schönste Beispiel für Barrierefreiheit" beim Festival. Er erwarte ein intensives, emotionales Erlebnis für alle Konzertgäste.
"Wir gehen auf den öffentlichsten Platz der Stadt, es gibt keine Eintrittsbarrieren", sagt Maul. Man müsse weder in eine Kirche gehen, noch Eintritt zahlen. Dafür wurden Solisten engagiert, die laut Maul mit großen Handicaps leben und Spitzenmusiker sind, etwa die Sängerin Gerlinde Sämann, die blind ist und eine der führenden Bach-Sopranistinnen.
Auch die Barriere zwischen passivem Publikum und aktiven Musikern werde durchbrochen. So etwa sollen Choräle der Johannespassion nicht nur mitgesungen, sondern auch nach Anleitung mitgebärdet werden. Maul hofft auf einen prall gefüllten Marktplatz, wo gefühlt ganz Leipzig gemeinsam Bach-Choräle singt und zeigt.
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