Eine Frau schwimmt nackt in einem See. Die Kamera zeigt sie aus der Vogelperspektive; als sie sich auf den Rücken dreht, sieht von hoch oben aus wie zappelndes X-Chromosom in der Ursuppe. Diese Frau ist Luisa, eine Grundschullehrerin, wie Eltern sie sich für ihre Kinder wünschen: unverbraucht, engagiert, kreativ und entsprechend beliebt; außer bei ihren neidischen ältlichen Kolleginnen. Die Aufnahmen zu Beginn dieses eindringlichen und zunehmend düsteren Dramas sind nicht erotisch, sondern verdeutlichen die Verletzlichkeit Luisas, denn die Frau erlebt einen Spießrutenlauf, an dessen Ende ihre Existenz zerstört ist.
Das Trio Claudia Kaufmann, Britta Stöckle (Drehbuch) und Viviane Andereggen (Regie) erzählt die Geschichte in Form einer geschickten Rückblendenkonstruktion, deren Rahmen die Arbeit der Polizei bildet: Im Haus der spurlos verschwundenen Kleinstadtlehrerin finden sich eindeutige Hinweise auf ein Gewaltverbrechen; die leitende Kommissarin (Verena Altenberger) geht davon aus, dass Luisa ermordet worden ist. Die Ermittlerin ist jedoch nur eine Nebenfigur, denn "Rufmord" (eine Wiederholung aus dem Jahr 2018) ist kein Krimi, sondern das Drama einer Frau, die zum Opfer einer Macht wird, gegen die sie keine Chance hat.
Kurz nachdem Luisa einem Jungen die Empfehlung fürs Gymnasium verweigert hat, taucht ein Nacktfoto auf der Homepage der Schule auf. Das Bild ist rasch gelöscht, aber jemand hat dafür gesorgt, dass es über sämtliche E-Mail-Verteiler verschickt worden ist. Die ohnehin distanzierten Kolleginnen haben statt Solidarität oder Mitgefühl bloß Häme zu bieten, und alles, was eine Polizistin (Lilly Forgách) Luisa zu sagen hat, ist eine Belehrung: Wer sich gar nicht erst nackt fotografieren lässt, muss auch nicht fürchten, dass solche Bilder im Netz auftauchen.
Die Herkunft des Bildes ist immerhin rasch geklärt: Der Fotograf war Luisas Ex-Freund. Er hat das Foto vor Jahren auf eine Rache-Website gestellt, aber mit der aktuellen Aktion hat nichts zu tun. Die nächste Attacke ist ein fingierter Internet-Auftritt, der nahelegt, die Lehrerin würde sich als Prostituierte anbieten. Nach einer hässlichen Auseinandersetzung am Elternabend wird Luisa beurlaubt, kurz drauf erleidet sie einen Nervenzusammenbruch.
Rosalie Thomass ist die perfekte Besetzung für diese Rolle, und das nicht nur, weil sie in der Szene mit den Eltern intensiv vermittelt, wie in der Lehrerin etwas für immer zerbricht. Sie verkörpert Luisa zunächst als Frau zum Verlieben: attraktiv, offen, zugewandt; ein echter Sonnenschein. Entsprechend warm und sonnig ist auch Martin Langers Bildgestaltung: Nichts scheint das Glück der jungen Frau trüben zu können. Das knallige Rot ihrer Lippen und die Rottöne, die ihre Kleidung dominieren, verleihen ihren Auftritten eine zusätzliche Signalwirkung. Umso krasser ist der Kontrast zu den düsteren Gegenwartszenen, denen sich mit fortlaufender Handlung auch die Rückblenden mehr und mehr angleichen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Nicht nur die immer farbloser gekleidete und ungeschminkte Luisa, auch die Bilder verlieren ihre Strahlkraft; selbst das Wetter wird schlechter. Das mag als ästhetisches Konzept etwas schlicht klingen, verfehlt aber seine Wirkung nicht, zumal die zugereiste Lehrerin mit Ausnahme ihres Freundes (Shenja Lacher) in dem oberbayerischen Ort keinen Rückhalt findet. Verantwortlich für die Aktionen im Netz ist ihrer Ansicht nach der Vater eines Jungen, dem Luisa nicht zutraut, dem Leistungsdruck des Gymnasiums standzuhalten. Johann von Bülow versieht diesen Bauunternehmer mit zwei Gesichtern: In der Öffentlichkeit gibt er sich freundlich und hilfsbereit, zuhause entpuppt er sich als aggressiver Choleriker.
Viviane Andereggen hat vor einigen Jahren mit einem Debüt auf sich aufmerksam gemacht, das nicht nur wegen des Titels ungewöhnlich war ("Simon sagt auf Wiedersehen zu seiner Vorhaut", 2015). Es folgte ein durchschnittlich guter "Hattinger"-Krimi (2016) sowie eine grandios gespielte witzige Komödie mit Martin Brambach über eine Familie, die statt der erwarteten englischen Austauschschülerin einen kleinen Inder bekommt ("Kein Herz für Inder", 2017).
Mit "Rufmord" ist die Regisseurin beim Drama angelangt, und dieses Genre beherrscht sie offensichtlich ebenfalls, zumal sich auch dieser Film durch vorzügliche schauspielerische Leistungen auszeichnet. Gerade das Zusammenspiel von Thomass und Bülow durchläuft das ganze Spektrum zwischenmenschlicher Beziehungen, was der Geschichte schließlich einen kleinen Knüller beschert. Davon abgesehen ist "Rufmord", 2019 mit dem Deutschen Fernsehkrimipreis ausgezeichnet, eine bedrückende Fallstudie über die Folgen von Cybermobbing.