Chantal sitzt auf einer Bank an Gleis 1 des Frankfurter Hauptbahnhofs. In der einen Hand hält sie Labello und Feuerzeug, in der anderen Hand einen Becher Milchkaffee, den sie sich in der Bahnhofsmission geholt hat. Dort sei ihr zweites Zuhause, erzählt sie. Gerade sei sie vier Monate im Gefängnis gewesen - wegen Beschaffungskriminalität. Denn sie konsumiert Crack und andere Drogen. 10 Euro kostet ein Krümel für die Crackpfeife, die sie in ein Taschentuch gewickelt in der Hosentasche trägt, ein Gramm der harten Droge kostet 80 bis 100 Euro.
Während Pendler, Reisende und demnächst auch wieder viele Fußballfans am Bahnhof ankommen, kommt Chantal nirgendwo an. Findet die 45-Jährige nach ihrer Haft keine Wohnung, wird sie wieder im Bahnhofsviertel leben - auf der Straße.
Wer den Bahnhofsvorplatz überquert, steht an der Fußgängerampel zur Kaiserstraße. Dort wird gerade eine neue Videoschutzanlage mit 360-Grad-Kameraauge aufgebaut. Drei Stadtpolizisten stehen an der Fußgängerkreuzung, an der in einigen Tagen auch Fußballfans auf Grün warten werden. Frankfurt ist einer der Spielorte der Europameisterschaft, die vom 14. Juni bis 14. Juli in Deutschland stattfindet.
Keine 100 Meter weiter in der Kaiserstraße ist ein altes Erotik-Kino. Auf dem Bürgersteig davor sitzen mehrere Menschen in abgewetzten Klamotten auf Pappen und Decken. Eine Frau im Rollstuhl hält eine Crackpfeife mit metallisch glänzendem Hals in der Hand.
Erotik-Shop trifft auf Eisdiele
Kino und Erotik-Shop befinden sich in Nachbarschaft einer Bar, einer Eisdiele, eines tegut-Supermarkts und eines Burgerrestaurants - das ist das Bahnhofsviertel, das am Ende des 19. Jahrhunderts als gut bürgerliches Quartier mit Historismus-Architektur entstand. Heute steht der Stadtteil in ganz Deutschland eher für Kriminalität, Drogen, Prostitution. Die britische Boulevardzeitung "Sun" warnte englische Fans wegen der Crack-Abhängigen vor dem "Zombieland". Die englische Mannschaft wird ein Vorrundenspiel in Frankfurt spielen.
Frank Höfler befürchtet, dass englische Fans vor seinem Laden randalieren könnten. Er betreibt das Sonnenstudio First Sun an der Elbestraße. Seine Kundschaft sind Touristen, Angestellte, die im Viertel arbeiten, bis hin zu den Frauen aus den Laufhäusern in der Elbe- und Taunusstraße. Vor seiner Ladentür riecht es nach Urin. Aber, sagt er, für ihn sei es jetzt sauber. Denn die Stadt tue was gegen die Drogenszene auf der Straße. "Es ist Bewegung drin", sagt Höfler. Wichtig sei aber, dass sich nachhaltig etwas tue.
"Sisyphos-Arbeit" für Polizei
Laut Stadt halten sich tagsüber etwa 300 Menschen im Bahnhofsviertel auf, die wie Chantal illegale Drogen konsumieren. Viele sind wie sie mehrfach abhängig. Besonders viele Konsumierende sitzen tagsüber in der Niddastraße und am Karlsplatz, wo es gleich gegenüber einen Konsumraum für Abhängige gibt. Die Straßenreinigung fährt hier mehrmals täglich durch die Straßen.
In der Niddastraße ist seit neun Jahren auch die Galerie von Daniel Schierke. Ja, die Abhängigen seien für einige seiner Kunden abschreckend. Für die Polizei sei es eine "Sisyphus-Arbeit", denn letztlich treibe man die Konsumenten nur von A nach B. Zugleich findet er, seine Galerie passt auch in diesen sozialen Brennpunkt. "Die Gesellschaft sieht gerne weg. Das geht hier im Bahnhofsviertel nicht. Hier sieht man das Elend und die Verwahrlosung."
Probleme mit Straßenkriminalität hat Schierke in seiner Galerie hingegen noch nie gehabt, sagt er. Die Zahl der Straftaten im Bahnhofsviertel bewegt sich laut Polizeipräsident Stefan Müller aber nach wie vor auf einem hohen Niveau. Mit Blick auf die Situation bei der Fußball-EM spricht Müller von einer "Mischsituation", die für die Beamten nicht einfach werde. Zu der Rotlicht- und Drogenszene kämen nun die Fußballfans hinzu.
Die Polizei hält mit erhöhter Präsenz, Videoüberwachung und einer Waffenverbotszone von 20 bis 5 Uhr dagegen, die jetzt auch für das Bahnhofsgebäude gilt. "Viele sind der irrigen Annahme, dass wir das nur wegen der EM machen. Unser Ziel ist es aber, die Situation im Bahnhofsviertel nachhaltig zu beruhigen", verspricht Müller.
Für manchen Geschmack tut die Stadtverwaltung aber auch zu viel: Für eine Frankfurter Rotlicht-Größe übertreibt es die Stadt mit Ladezonen, Fahrradstellplätzen und E-Scooter-Flächen in und um die Taunusstraße. Die Drogenabhängigen hingegen seien harmlos. Der Bordellbesitzer, der lieber nur anonym zitiert werden möchte, findet den Verlust der Parkplätze deutlich ärgerlicher. "Meine Kunden kommen nicht mit dem Fahrrad, sondern mit dem Auto."