evangelisch.de: Herr Wißmann, sind Sie zufrieden mit der von der Verfassung garantierten Religionsfreiheit? Oder gibt es Fälle, wo das Recht nicht greift?
Hinnerk Wißmann: Das Grundgesetz hat in 75 Jahren der Religion einen überragend großen Freiheitsraum zugebilligt. Es schützt den Glauben und die individuelle wie auch kollektiv-institutionelle Religionsausübung. Die Rechtsordnung vertraut auf Religion als positivem Faktor für das Gemeinschaftsleben. Und so können umgekehrt religiöse Menschen auch auf die Verfassung vertrauen. Das Grundgesetz schützt auch durch die Religionsfreiheit erst einmal die Verschiedenheit als Ausdruck von Freiheit.
Wir leben in einer multireligiösen, pluralen Gesellschaft. Hier in Hamburg haben wir allein mehr als 130 Religionsgemeinschaften. Gibt es auch Fälle in denen Religionsgemeinschaften vielleicht zu viele Freiheiten hatten?
Wißmann: Für die Religionsfreiheit gelten die allgemeinen Grenzen der Rechtsordnung wie für jede andere Freiheit auch. Anders geht es auch nicht, und das muss auch immer wieder neu überprüft und nachgeschärt werden. Ein Beispiel aus dem Bereich kirchlicher Institutionen: Zum Komplex Missbrauch gehört, dass der institutionellen Freiheit der Kirchen staatlicherseits zu großes Vertrauen entgegengebracht wurde.
Mit welcher Folge?
Wißmann: Nach allen einschlägigen Studien wurden Ermittlungsverfahren, wenn überhaupt Anzeige erstattet wurde, nicht mit der Dringlichkeit geführt, wie man das erwarten könnte. Man vertraute wohl darauf, dass die Institutionen das intern aufklären und regeln.
Aber auch für andere Religionen gilt natürlich, dass sie sich an die Grenzen des Rechts halten müssen. Nur ist es eben durchaus so, dass Menschen im Rahmen der Verfassung etwa eine andere Rechtsordnung und eine andere Rolle der Religion anstreben dürfen. Sie müssen das bloß eben im Wege demokratischer Mehrheiten tun, religiöse Ideologie ist da kein Argument.
Sie sprechen die Kalifatsforderungen von islamistischen Splittergruppen an. Die Verfassung garantiert, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind, wie blickt man dann auf Segregationsforderungen, also die Trennung nach Geschlechtern, die religiös begründet werden?
Wißmann: Die Rechtsordnung schützt das Individuum auch vor seiner Religionsgemeinschaft. Das ist extrem wichtig. Schwache werden geschützt und das können zum Beispiel Frauen und Mädchen sein. Sie müssen sich von dem Druck ihrer Familien, ihrer Kultur befreien dürfen, und finden da die Rechtsordnung an ihrer Seite.
Mädchenschulen gibt es auch "im katholischen Bildungsbereich"
Allerdings möchte ich daran erinnern: Selbstverständlich akzeptieren wir bis heute reine Mädchenschulen, etwa im katholischen Bildungsbereich. Also auch hier notwendige Differenzierung. Getrennte Erziehung von Jungen und Mädchen ist eine alte Idee auch christlicher Bildung, auch moderner feministischer Theorien. Es geht immer darum, was konkret gemeint ist.
Es gab der Vergangenheit Versuche, Mädchen vom Schwimmunterricht auszunehmen. Aus der muslimischen Community. Wäre das ein Beispiel, in dem religiöse Gründe nicht akzeptiert werden
Wißmann: Kann man nicht in dieser Allgemeinheit sagen, man versucht das ja etwa über den Burkini zu lösen. Also erst mal gab es diese Versuche auch von christlichen Eltern. In Bayern ist der Sportunterricht in bestimmten Jahrgangsstufen nach wie vor nach Geschlechtern getrennt, gerade auch zum Schutz religiöser Empfindungen.
"Kein Sonderrecht" für muslimische Eltern. "Sie unterliegen den gleichen Anforderungen wie Christenmenschen."
Ich werbe wirklich entschieden dafür, dass wir kein Sonderrecht für muslimische Eltern oder Sichtweisen einführen. Sie unterliegen den gleichen Anforderungen wie die Christenmenschen. Und Eltern dürfen eben auch zum Beispiel dafür eintreten, dass ihre Kinder besonders geschützt erzogen werden.
Wenn eine neue religiöse Gemeinschaft zum Beispiel sagen würde: Unsere Jungs oder Männer sind besonders schutzbedürftig. Die dürfen das Haus nicht verlassen nach der Schule oder Arbeit. Sind dann die Grundrechte durch die Religion eingeschränkt?
Wißmann: Natürlich würde der Staat jeden Menschen davor schützen, wenn seine Religionsgemeinschaft ihn zu etwas zwingt. Aber die freiwillige Entscheidung, eine bestimmte Form des Lebens zu führen, die gestehen wir gerade aus Gründen der Religionsfreiheit auch zu, klösterliche Abgeschiedenheit ist ja erlaubt. Wir müssten also jeweils zeigen, dass jemand unfreiwillig eine bestimmte Lebensform wählt. Aber die Unterstellung, dass Lebensformen, die von gewohnten Vorstellungen abweichen, per se unfreiwillig sind, ist eben auch wieder Ideologie.
Ein anderes Beispiel?
Wißmann: Wir gehen in Deutschland sehr weit darin, dass wir sagen, grundsätzlich alle Kinder müssen in die öffentliche Schule. In fast allen anderen Ländern der Welt gilt: Wenn Eltern finden, in der Schule wird falsch erzogen, können sie ihre Kinder gerade aus religiösen Gründen zu Hause erziehen. Dieses Homeschooling ist überall auf der Welt anerkannt, nur in Deutschland nicht. Das bedingt aber auch, dass wir die Verschiedenheit von Religion in der Schule zulassen und nicht so eine Art etatistische Gleichmacherei*) betreiben. Dann verliert die gemeinsame Schule ihre Legitimation.
*) Anschauung, die dem Staat eine alles überragende Rolle einräumt
Das war der Grund, warum einige Eltern ausgewandert sind, weil sie ihre Kinder aus religiösen Gründen selbst beschulen wollten. Aber es gibt auch viele Bundesländern, in denen gar kein Religionsunterricht an Schulen etwa für Muslime angeboten wird, obwohl die Eltern das wünschen. In Hamburg möchten auch Buddhisten am Religionsunterricht beteiligt werden.
Wißmann: Hamburg versucht da ja einen integrativen Weg durch den "Religionsunterricht für alle" (RUFA), der eben möglichst viele Religionsgemeinschaften in die Verantwortung des Unterrichts mit hinein nimmt. Das ist hoch anspruchsvoll, weil Religionsunterricht mit religiöser Wahrheit zu tun hat, aber eben doch eine Möglichkeit, auch in Zukunft in einer pluralen Gesellschaft den Faktor Religion in seiner Verschiedenheit auch ernst zu nehmen. Der Religionsunterricht ist ja grundrechtlich geschützt, daher ist eine allgemeine staatliche Religionskunde auch keine gleichrangige Alternative.
Nochmal zurück zu der Beschulung – da gibt es auch andere Wege, die die Verfassung den Religionsgemeinschaften einräumt.
Wißmann: Die Verfassung gewährt das Recht zur Gründung religiöser Schulen, das ist sogar ganz ausdrücklich im Grundgesetz festgelegt. Wenn die staatliche Schule keine Bekenntnisschule ist, was ja fast nirgendwo der Fall ist, darf ich eine private Bekenntnisschule gründen, so sagt es Art. 7 des Grundgesetzes. Diese private Schule muss dann bloß pädagogisch gleichwertig sein, und deswegen ist das für kleine Religionsgemeinschaften schwierig. Hier wäre Homeschooling die Konsequenz. Aber diesen Weg versperren wir. Wenn wir keinen Grund liefern wollen, dass Menschen aus religiösen Gründen ins Exil gehen, müssen wir daher die religiöse Identität gerade von Minderheiten in der Schule positiv aufnehmen.
In der Tat sind einige Eltern aus religiösen Gründen in die USA ausgewandert und haben einen Asylantrag gestellt. Aber die Religionsgemeinschaften sind nicht gleich aufgestellt. Christliche Religionsgemeinschaften sind klar im Vorteil, weil sie kirchliche Strukturen pflegen. Wo sehen Sie Punkte, wo die Verfassung nicht unterstützen kann? Prozessionen im öffentlichen Raum, Gebetsräume an Universitäten etwa?
Wißmann: Zu den Gebetsräume kann ich nur sagen: Warum nicht? Wenn es Universitätsgottesdienste gibt, warum sollen muslimische Studierende keinen Ort in der Universität haben?
Weil tägliche Religionsausübung Privatsache ist?
Wißmann: Das Grundgesetz sieht das dezidiert anders und ordnet Religion als durchaus öffentliche Sache ein. Und es schützt alle Religionen in gleicher Weise…
…. soll es öffentliche Gebetsräume geben, damit es Muslime ihre Gebete verrichten können, während der Arbeitszeit, während des Unterrichts?
Wißmann: Es ist jedenfalls eine Scheingerechtigkeit, dass man sich scheinbar neutral Punkte heraussucht, die Muslime treffen, und dann sagt: Genau diese Praxis verbieten wir ganz religionsneutral. Was dagegen Christen nützlich ist, verbieten wir nicht. Eine Verbannung des Islam aus der Öffentlichkeit löst die Probleme nicht, sondern macht sie größer. Ich glaube immer noch an die positive Kraft von Religion und auch an die integrative Kraft von Religion. Das stellt auch etwa die Muslime vor Aufgaben, weil sie als Teil der gemeinsamen öffentlichen Ordnung angesprochen werden.
Was ist mit Menschen, die das gar nicht interessiert, die sich belästigt fühlen, durch öffentliche Prozessionen usw.?
Wißmann: Das Grundgesetz mutet uns allen zu, dass andere Menschen abweichende Überzeugungen haben und mit diesen sichtbar leben dürfen. Es gibt kein Grundrecht, von der Religion anderer Menschen nicht tangiert zu werden. Ich muss auch hinnehmen, dass Fußballfans an den Wochenenden marodierend durch die Innenstädte ziehen, oder dass extremistische Demonstrationen in diesem Lande stattfinden. Das ist genau auch ein Teil von grundrechtlicher Freiheit, dass man das auch als Zumutung aushält.
Sehen Sie Ansätze, dass Populisten die Verfassung nutzen, um Eigeninteressen durchzusetzen oder das Recht auf freie Religionsausübung beugen?
Wißmann: Nach meiner Einschätzung ist die Religionsfreiheit nicht der Ansatz der Populisten, um weitere Aktionsräume zu gewinnen. Eher wird die Religionsfreiheit von Populisten negativ genutzt mit dem Argument, für manche müsste die Religionsfreiheit eingeschränkt werden. Und das ist nicht der Weg, den das Grundgesetz vorsieht.
Meinen Sie das in Bezug auf die Versammlungen von Islamisten wie der Initiative "Muslim Interaktiv"?
Wißmann: Das Problem unserer gegenwärtigen politischen Lage liegt nicht in der Religionsfreiheit begründet. Das, was uns herausfordert auf den Straßen, etwa bei den Islamisten, ist ein Fall der Versammlungsfreiheit und der Meinungsäußerungsfreiheit. Das hat mit Religionsfreiheit kaum etwas zu tun. Sie schützt eine bestimmte Form der Lebensführung. Und das gehört zu einem pluralen, freiheitlichen Staat dazu. Im Schutz der Außenseiter fängt Religionsfreiheit an, besonders interessant zu werden. Der Schutz der Mehrheit ist nicht die Aufgabe der Grundrechte.
Sehen Sie einen Punkt, wo es vielleicht sich lohnt, noch mal weiterzudenken?
Wißmann: Ich würde nach wie vor um Optimismus in Sachen Religionsfreiheit werben. Beispielsweise möchte ich fragen: Was stört eigentlich an einer studierten jungen Frau, die mit einem Kopftuch Richterin werden will? Ist das nicht auch eine verkappte Form von Frauenfeindlichkeit, dass wir diese Emanzipationsleistung - ich bin studiert, ich verpflichte mich auf die Werte des Grundgesetzes und ich bin zugleich auch religiös – abschneiden wollen, wenn sonst nichts gegen die Eignung der Frau spricht? Das Grundgesetz setzt nicht auf Anpassung, sondern vertraut auf Freiheit und Verschiedenheit als Grundlage gelingender Integration. Daher bleibt Religionsfreiheit wichtig, auch in einer säkularer werdenden Gesellschaft.