Plakat mit Bayerns Ministerpräsident M. Söder (CSU) und des CDU-Bundesvorsitzenden F. Merz.
Sven Hoppe/dpa
Im Wahlkampf machen CDU und CSU Stimmung gegen vermeintliche "Sozialschmarotzer".
Mission.de
Wir brauchen Barmherzigkeit
Für die, die nichts haben, gibt es kaum Gnade. Stattdessen werden Gerechtigkeitsdebatten dazu genutzt, Menschen ohne Privilegien noch weiter zu stigmatisieren und ihre Situation zu verschlechtern. Dabei wäre praktizierte Barmherzigkeit für ein gutes Miteinander der Menschen wesentlich produktiver als kleinteiliges Erbsenzählen.

Mitte März 2024 in Deutschland. Die Partei mit dem "C" im Namen, flankiert von ihrer Schwesterpartei, die sich zusätzlich auch noch ein "S" auf die Fahne schreibt, verkündet lauthals, sie wolle das Bürgergeld abschaffen. Kernthese: Eine Minderheit nutzt das Sozialsystem aus, indem sie Angebote für "zumutbare Arbeit" nicht annimmt, und kommt damit auch noch durch. Diese so genannten "Arbeitsverweigerer", sollen nach dem Willen der CDU/CSU mit einer kompletten und dauerhaften Streichung der Sozialleistungen bestraft werden.

"Florida-Rolf" lässt schön grüßen. Es ist ja auch verlockend einfach: Wir bauen eine Legende von so genannten "Sozialschmarotzer:innen" auf, die via System – in diesem Fall das Bürgergeld – andere ausnutzen und um Geld, Arbeitskraft, Freizeit und überhaupt betrügen.

Gleichzeitig suggerieren wir: Diese finsteren Umtriebe sorgen dafür, dass unser Sozialsystem nicht mehr funktioniert, weil viel zu viel Geld für Leute ausgegeben wird, die das Geld gar nicht brauchen – nein, besser: nicht verdienen! Und, vor allem – jetzt kommt der geistige Überbau: Es ist ja auch schreiend ungerecht, dass Menschen einfach Geld für nix einstreichen, während andere hart schuften.

Das Prinzip ist einfach: Immer feste druff. Einfacherweise auf die, die sich nicht wehren können. Arbeitende, von Armut Bedrohte, von Armut Betroffene und noch ärmere Menschen gegeneinander auszuspielen, ist leider eine gängige Praxis des Machterhalts und vor allem der Besitzstandswahrung bzw. -vermehrung - auch in Demokratien und auch international. Und dummerweise verfängt dieses Vorgehen regelmäßig. Während – apropos Money for Nothing, liebe am Aktienmarkt erfolgreiche Kapitaleigner:innen – wer auch nur das äußerste andere Ende der Fahnenstange, also die "Super-Reichen", beispielsweise mit einer Vermögenssteuer in die solidarische Pflicht nehmen möchte, sich sofort durch den Vorwurf des "Sozialneids" diskreditiert sieht.

Festgefahrene Diskussion

Und die Reaktion derer, die anderer Meinung sind und sich vielleicht insgeheim eine andere, bessere Welt vorstellen? Läuft meistens ebenfalls nach einem ritualisierten Muster ab: Vor allem die Sozialverbände von Diakonie und Caritas über die AWO bis hin zu VdK und Paritätischem weisen darauf hin, dass solche Ansinnen wie der jüngste Angriff der C-Parteien auf das Bürgergeld pure Polemik zu Lasten der ohnehin schon hoch Belasteten, von Armut Betroffenen sind. Im konkreten Fall: Dass es kaum Leute gibt, die tatsächlich angebotene Arbeit verweigern, und dass für etwa 700.000 erwerbsfähige Menschen, die Bürgergeld bekommen, die Annahme einer Arbeit aus guten und schwerwiegenden Gründen nicht zumutbar ist.

Bitte nicht falsch verstehen: Es ist total wichtig und unverzichtbar, dass solche Polemik mit Sachargumenten gekontert wird. Aber es ist eben auch vorhersehbar. Und vor allem ist die Welle der Empörung, wenn einmal angerollt, nur schwer wieder aufzuhalten. Irgendetwas von diesem vergifteten Narrativ der Konservativen wird hängenbleiben an den so genannten "Leistungsberechtigten".

Wenn Umverteilung gelänge

So weit, so ein- und festgefahren. Und was jetzt? – Wie kommen wir da raus? Vielleicht – zugegeben, das ist schrecklich unmodern – indem wir mal wieder vom Ideal her denken. Und, jetzt kommt die steile These: Wir Christ:innen haben genau das richtige Mind-Set dafür im geistlich-geistigen Gepäck!

Dafür, das deutlich zu machen, könnte folgendes Gedankenexperiment dienen: die ideale Welt. Okay, wie diese en detail aussehen soll, daran scheiden sich die Geister. Die diesbezüglichen Wünsche und Vorstellungen dürften jedenfalls äußerst heterogen sein. Aber abgesehen von den Einzelheiten: Vielleicht, und vielleicht sogar wahrscheinlich, könnten wir uns unter Verzicht auf unmittelbare Eigennützigkeit darauf einigen, dass in einer idealen Welt alle Menschen möglichst gleich gute reelle Chancen auf ein – auch für sie – gutes, sicheres und möglichst schönes Leben haben sollten. Die Ressourcen ebenso wie die produktiven Mittel und Möglichkeiten sollten dafür ausreichen – ein Fakt, der auch schon mit der Kampagne "Es ist genug für alle da!" propagiert wurde. Nötig wäre aber natürlich eine globale Umverteilung der Mittel und Möglichkeiten. Dass letzteres Unterfangen äußerst schwierig umzusetzen wäre, ist unstrittig. Aber gönnen wir uns das Vergnügen und tun wir für einen Moment so, als hätten wir es tatsächlich geschafft.

Über den eigenen Tellerrand

Wir könnten nun zum Beispiel in einer Welt leben, in der alle in etwa gleich viel haben. In der Entscheidungsprozesse, was produziert, nach was geforscht und was als mehr oder weniger notwendig erachtet wird, möglichst basisdemokratisch ablaufen und so eine hohe Akzeptanz haben. Damit das alles funktioniert, müssten wir alle deutlich über uns hinausdenken und in einem hohen Maß einsichtsfähig sein. Wir müssten unsere derzeitigen Fähigkeiten in diesen Disziplinen sehr stark weiterentwickeln, um das hinzubekommen.

Denn damit unser Gemeinwesen weiterhin gut läuft und wir eben alle ein schönes Leben haben können, müssten wir uns trotzdem ordentlich reinhängen und arbeiten. Angenommen, 90 Prozent aller Menschen weltweit bekämen es hin, das ihnen Mögliche beizutragen – Menschen, die aus guten Gründen nicht oder nicht voll arbeiten können, seien hier inbegriffen. Aber – hoch gegriffene! – 10 Prozent machten das eben nicht. Letztere würden einfach die ihnen zugeteilten Mittel kassieren und einen reinen Ego-Trip fahren – also mithin einen Schönheitsgrad des Lebens anstreben, der zu Lasten der anderen geht.

Vergiftetes Klima

An dieser Stelle gibt es zwei Möglichkeiten. Die naheliegende Option ist: Wir verurteilen die Schmarotzer:innen und verhängen Sanktionen gegen sie. Schließlich ist es ja ungerecht, dass sie nicht ihren Teil zum Gemeinwohl beitragen, während die anderen für eben jenes schuften. Das wäre zwar im landläufigen Sinn gerecht, die Folgen wären allerdings fatal. Damit "Fehlverhalten" erkannt werden kann, muss es ja auch gesucht werden. Infolgedessen würden alle anfangen, sich gegenseitig immer akribischer zu beobachten und ihre Beiträge zum Gemeinwesen immer kleinteiliger zu bewerten.

Irgendwann würde jemand auf die Idee kommen, auch graduelles "Fehlverhalten" als ungerecht anzuprangern und entsprechend zu sanktionieren. Die Konsequenz wären Argwohn und sprichwörtliches Erbsenzählen. Die eine Arbeit wäre plötzlich wichtiger als die andere, die – zunächst selbsternannten – "Mehrleister:innen" würden höhere Bezüge und sonstige Privilegien einfordern. Wer nicht zu diesem Kreis gehört, geriete unter permanenten Rechtfertigungszwang. Kurzum: Das gesellschaftliche Klima wäre vergiftet, die ideale Welt dahin. Wir wären mehr oder weniger wieder im Hier und Jetzt.

Das Ideal retten

Aber es gibt noch die andere Möglichkeit: Wir könnten davon ausgehen, dass konstant wenige tatsächlich auf Kosten der Gemeinschaft leben, aber die große Mehrheit ihren Einsatz bringt. Und im Wissen darum, dass Sanktionierung von "Fehlverhalten" eben jenes gerade skizzierte Klima des Argwohns erzeugen würde, könnten wir um des guten Miteinanders der Allermeisten und um der Erhaltung der idealen Welt willen Barmherzigkeit vor allzu kleinteiligen Gerechtigkeitserwägungen walten lassen. Wir könnten die wenigen, die nichts beitragen wollen, halt einfach mit durchziehen. Das wäre ein bisschen mehr Aufwand, aber: Die ideale Welt wäre gerettet. Ende des Gedankenexperiments.

Barmherzigkeit als Schlüsselqualifikation

Was bleibt, ist eine keinesfalls neue, aber ein wenig verschüttete Dimension für unser Denken und Handeln: Barmherzigkeit als umfassende christliche Grundtugend und orientiert beispielsweise am Verhalten des Weinbergsbesitzers im biblischen Gleichnis könnte demnach eine Schlüsselqualifikation sein, wenn wir es wirklich dahin bringen wollen, dass unsere Welt vielleicht keine ideale, aber eine bessere und auch sozial weniger vergiftete wird – in diesem reichen Land, aber auch überall sonst auf diesem Planeten.

Vielleicht sollten wir als Christ:innen an diese insbesondere vor der augenblicklichen gesellschaftlichen Realität geradezu avantgardistisch anmutende Maxime unserer Glaubensausübung denken, wenn wir mal wieder darüber sinnieren, was unser christliches Profil in dieser Welt relevant sein lassen könnte.