evangelisch.de: Herr Schulze, das FSJ feiert dieses Jahr 60-jähriges Jubiläum, das Diakonische Jahr 70 Jahre. Wie kam es zu dieser Idee? Wo liegt der "Unterschied"?
Martin Schulze: Die Geschichte des heutiges Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) nimmt ihren Anfang 1954: Anlässlich der Hundertjahrfeier der Diakonie Neuendettelsau, einer großen sozialen Einrichtung in Nordbayern, ruft deren damaliger Leiter Hermann Dietzfelbinger am 9. Mai 1954 junge Frauen dazu auf, "ein Jahr ihres Lebens für die Diakonie zu wagen". Im Nachkriegsdeutschland herrscht in den Einrichtungen der Diakonie ein starker Mitarbeitermangel. Der Aufruf zum "Diakonischen Jahr" ist Ausdruck der Sorge, die sozialen Aufgaben nicht mehr ausreichend wahrnehmen zu können. Von Anfang an steht neben dem Interesse, Mitarbeiterinnen auf Zeit oder Dauer zu gewinnen, aber auch das Ziel, jungen Menschen Bildung für ihre Lebenspraxis zu vermitteln.
Tatsächlich wird der Aufruf gehört. In den ersten drei Jahren melden sich rund 250 freiwillige Frauen, die dafür ihr bisheriges Berufsleben unterbrechen. Sie haben verschiedene Hintergründe - ob Hausfrau, Schneiderin oder Fotografin, ob aus der Landwirtschaft, der Fabrik oder einem kaufmännischen Beruf. Nach den ersten drei Jahren kommt die Idee des Diakonischen Jahres zum Durchbruch: In allen evangelischen Landes- und Freikirchen, aber auch in den evangelischen Kirchen einiger westeuropäischer Nachbarländer entstehen Programme für ein Diakonisches Jahr. Die Katholische Kirche sowie andere Träger der sozialen Arbeit in Westdeutschland folgen dem Beispiel. Auch in der DDR entwickelt sich das Diakonische Jahr in kirchlicher Trägerschaft und bietet Christinnen und Christen im Staatssystem der DDR einen Freiraum zur Neuorientierung.
"Freiwilligendienste bei evangelischen Trägern stehen allen Menschen offen. Sie sind nicht an eine Kirchen- oder Religionszugehörigkeit gebunden."
Das "Gesetz zur Förderung eines Freiwilligen Sozialen Jahres" schafft dann in 1964 in der Bundesrepublik schließlich den rechtlichen Rahmen für diese besondere Form bürgerschaftlichen Engagements.
Über Freiwilligendienste bei evangelischen Trägern kommt die Kirche in Kontakt mit kirchenfernen Jugendlichen. Welche Bedeutung hat dies in der heutigen Zeit?
Schulze: Freiwilligendienste bei evangelischen Trägern stehen allen Menschen offen. Sie sind nicht an eine Kirchen- oder Religionszugehörigkeit gebunden. In den letzten Jahren beobachten wir zunehmend, dass Freiwilligendienstleistende entweder häufiger religionsfern und ohne nennenswerte Berührung mit der evangelischen Kirche aufgewachsen sind oder einer anderen Religion angehören. Der Freiwilligendienst bietet damit die Chance, gerade diesen Personenkreis für das kirchlich-diakonische Engagement zu interessieren und die Auseinandersetzung mit christlichen Werten zu fördern.
"Die Freiwilligen können persönliche Erfahrungen sammeln und sich selbst erproben."
Wie wichtig ist dies im Hinblick auf Fachkräftemangel in sozialen und kirchlichen Berufen?
Schulze: Die Einsatzstellen können die Vorteile und Chancen der sozialen Berufe herausstellen, die Freiwilligen können persönliche Erfahrungen sammeln und sich selbst erproben. Tatsächlich ist ein Freiwilligendienst für sehr viele Teilnehmende das Eingangstor zu einer weiteren Beschäftigung im sozialen Bereich. Mindestens die Hälfte der Teilnehmenden bleibt jedoch beruflich im sozialen Bereich. Freiwilligendienste sind insofern ein gut geeignetes Instrument, für soziale und kirchliche Berufe zu werben und dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Bundespräsident Steinmeier, der bei den Feierlichkeiten das Grußwort spricht, hatte bereits 2022 vorgeschlagen, einen sozialen Pflichtdienst in Deutschland einzuführen, evangelische Träger lehnen dies allerdings ab. Warum?
Schulze: Die Forderung nach einem Pflichtdienst oder Gesellschaftsdienst wird zunehmend in der politischen Öffentlichkeit in Deutschland diskutiert. Eine allgemeine Dienstpflicht wäre ein tiefer Eingriff in die Eigenständigkeit von Menschen und ihre Umsetzung wäre sehr teuer. Besser wäre ein Dienstrecht, ein Rechtsanspruch auf einen freiwilligen Dienst. Wenn – anders als heute - jede bestehende Vereinbarung für einen Freiwilligendienst automatisch gefördert würde, könnten Einsatzstellen und Träger freier handeln. Wenn das Dienstrecht außerdem mit einer Pflicht verbunden wäre, sich über Angebote beraten zu lassen, wäre mit einer raschen Steigerung der Freiwilligenzahlen zu rechnen. Grundsätzlich kann sich das gesamte Arbeitsfeld der Freiwilligendienste (auch über die verschiedenen Verbände hinweg) gut vorstellen, sich in die Entwicklung eines Dienstrechtes einzubringen und den Prozess mitzugestalten.
"Für den Jahrgang 2024/25 sind massive Kürzungen der Haushaltsmittel für die Freiwilligendienste angekündigt."
Aktuell zeigen sich jedoch ganz andere Herausforderungen: Tausende zumeist junge Menschen leisten jedes Jahr einen Freiwilligendienst in einer Einrichtung von Diakonie oder Evangelischer Jugendarbeit, die Nachfrage ist weiterhin groß. Doch trotz des Erfolgs ist diese besondere Form des Engagements von Mittelkürzungen bedroht. Für den Jahrgang 2024/25 sind massive Kürzungen der Haushaltsmittel für die Freiwilligendienste angekündigt. Dies führt jetzt bereits zu Kürzungen von 7,5 Prozent für den neuen FSJ-Jahrgang, der ab Sommer 2024 startet, und von 25 Prozent für den Bundesfreiwilligendienst ab Anfang 2025. Für den Jahrgang ab Sommer 2025 stehen im FSJ sogar Kürzungen von 35 Prozent gegenüber 2023/2024 im Raum.
Die geplanten Kürzungen werden die Zahl der Plätze in den Freiwilligendiensten deutlich reduzieren, die Vielfalt der Einsatzstellen einschränken und die erreichbaren Zielgruppen verkleinern. Damit wird ein wichtiges Instrument zur Gewinnung junger Menschen für soziale Berufe und gesellschaftliches Engagement massiv beschnitten. Das Bestehende muss zunächst mittelfristig gesichert sein, um daraus perspektivisch Ergänzendes entwickeln zu können.
Was sind die prägenden Erfahrungen, die Sie in der Evangelische Freiwilligendienste gGmbH sammeln konnten?
Schulze: Freiwilligendienste sind ein Gewinn hoch drei, sie sind ein Gewinn für die Freiwilligen, für die Klienten und die Mitarbeiter:innen in den Einsatzstellen und für die Gesellschaft als Ganzes.
In den letzten 70 Jahren haben über 300.000 überwiegend junge Menschen einen Freiwilligendienst im evangelischen Bereich gemacht, mehr als 200.000 davon in den letzten 17 Jahren. Das macht die große Dynamik und auch die gesellschaftliche Kraft der Freiwilligendienste deutlich. Menschen wollen sich einbringen und sich gesellschaftlich engagieren und Freiwilligendienste bieten dafür ein passendes und gut begleitetes Angebot. Freiwilligendienste sind in erster Linie ein Bildungsangebot und tragen mit diesem Ansatz zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Orientierung der Freiwilligendienstleistenden für den eigenen Lebensweg bei.
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, Online-Texterin und Marketing-Coach. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Freiwillige erleben die Bildungsarbeit in den Freiwilligendiensten oft als großen Kontrast zum schulischen Lernen und als große Bereicherung. Hier können Sie sich in die Auswahl der Seminarthemen und die Ausgestaltung der Seminare einbringen und miteinander ins Gespräch zu persönlichen und gesellschaftlichen Fragestellungen kommen. Diese Bildungsangebote sind ein wichtiger und zentraler Baustein der Freiwilligendienste und tragen wesentlich zum Erfolg der Dienste bei.
"Evangelische Träger bieten heute eine große Einsatzstellenvielfalt an und auch die Teilnehmer:innen sind vielfältig."
Wir erreichen viele Menschen in Umbruchs- und Übergangszeiten wie nach dem Schulabschluss oder nach Beendigung der Familienphase. Dabei sind die Freiwilligendienste nicht statisch, sondern haben sich über die Jahrzehnte immer wieder weiterentwickelt. So bieten evangelische Träger heute eine große Einsatzstellenvielfalt an und auch die Teilnehmer:innen sind vielfältig. Sie kommen aus unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Hintergründen und mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen. In den Seminaren begegnen sie sich auf Augenhöhe und kommen miteinander ins Gespräch.
Es gibt wohl kaum einen anderen Bildungsbereich, in dem so unterschiedliche Menschen miteinander in Kontakt und ins Gespräch kommen. Freiwilligendienste leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Wir sind sehr dankbar für das Engagement der über 300.000 Freiwilligen in den letzten Jahrzehnten und für alle, die das Angebot in dieser Zeit begleitet und weiterentwickelt haben. Somit sind die Freiwilligendienste auf der Höhe der Zeit und bei entsprechend gestalteten Rahmenbedingungen können die Freiwilligenzahlen auch weiterhin dynamisch wachsen.
Weitere Infos unter: ein-jahr-freiwillig.de
Hintergrund
Als Geburtsstunde der Freiwilligendienste gilt das Diakonische Jahr: Am 9. Mai 1954 rief die Diakonie Neuendettelsau in Nordbayern anlässlich ihrer Hundertjahrfeier damals junge Frauen dazu auf "ein Jahr ihres Lebens für die Diakonie zu wagen". Am 29. April 1964 verabschiedete der Bundestag das Gesetz zur Förderung eines Freiwilligen Sozialen Jahres. Es schuf den gesetzlichen Rahmen für die heutigen Freiwilligendienste. Weitere Informationen über die Evangelischen Freiwilligendienste finden Sie hier.